Shane - Das erste Jahr (German Edition)
dem, was er ist? Hat er aufgegeben?
Shane musste fast lächeln, als sich diese Stimme in ihr gemeldet hatte, sie hätte beinahe gegrinst, sie fühlte neue Kraft durch sich strömen, doch sie wusste ebenfalls, dass sie sparsam sein musste mit der Zuversicht, mit der Hoffnung, es gab immer noch dieses Ding, das in ihr lauerte; im Moment schien es zu schlummern, doch die Frage, welche der beiden Stimmen die Stärkere war, hätte Shane nicht beantworten können. Nicht beantworten wollen.
Sie schob einen Fuß vor den anderen durch den schmutzigen Schnee, sie schob ihn vor sich her wie die Gedanken, die nicht weniger sondern immer mehr wurden, ihr Blick war zuversichtlich, ihr Kopf erhoben, doch ihre Beine unschlüssig, wohin sie gehen sollten. Fast war es so, als würde ihr Äußeres ihr Inneres spiegeln.
„Schneeberge geben Schätze frei.
Scheinbar über Nacht sind die Temperaturen auf knapp über null Grad gestiegen. Seit heute früh sind zum ersten Mal seit Monaten wieder die Räumdienste unterwegs.
Es scheint fast so, als hätte der Schnee die Stadt unter sich im Winterschlaf festgehalten. Seit langem sieht man wieder Bürger auf den Straßen, erste Autos wagen sich aus den Garagen und das verhaltene Vogelgezwitscher zaubert das erste Lächeln auf all unsere Gesichter.
Auch die ersten kuriosen Meldungen bringt der vermeintliche und endliche Winterabschied mit sich. Bereits um ein Uhr in der Nacht gingen in der Redaktion Anrufe von den Männern ein, die die ersten Schneeschieber fahren.
Unter den Schneebergen verbergen sich nach deren Angaben wohl Unmengen von Dingen, die der Schnee begraben und nicht mehr hergeben wollte.“
Der Schmauss spazierte unablässig vor der Tafel hin und her. Auge, Kopf, Auge, Kopf. Sein wilder Tanz hatte nun kaum mehr etwas Lächerliches an sich, er war nur noch bemitleidenswert. Bemitleidenswert und …angsteinflößend.
Shane versuchte so wenig wie möglich nach vorn zu blicken, den Schmauss anzublicken und seinen komischen Tanz zu beobachten.
Wenn sie es doch tat, weil sie manchmal einfach nicht anders konnte, verzog sie das Gesicht. Einmal hatte sie auch Maria beobachtet, wie sie das Gesicht verzogen hatte. In ihrem Gesicht lag nichts als Ekel.
Shane hatte darüber nachgedacht. Sie selbst fühlte auch Ekel, doch es war noch etwas anderes. Es war etwas, was sich anfühlte wie die Ruhe vor dem Sturm.
Es war etwas, was passieren würde; etwas wie der Moment, als der Schmauss aus dem Fenster geblickt und fast unhörbar „Es kommt Schnee in die Stadt“ geflüstert hatte. Etwas, vor dem sie sich nun nicht mehr verschließen konnte. Nicht mehr, seit sie den Schlüssel hatte.
In der Pause stand Shane auf dem grauen trüben Schulhof. Wie immer stand sie in der hintersten Ecke. Ach Maria! Sie atmete tief ein.
Dann fuhr sie mit der Hand in die Manteltasche und umfasste den metallenen Gegenstand.
Sie wusste, dass sie ihn eigentlich nicht brauchen würde, nicht das Objekt an sich, doch das Symbol. Sie drehte den kalten Schlüssel in ihrer Hand hin und her. Sie wusste, dass es nun Zeit war.
„22. September 1992.
Ich hoffe, dass dieses Büchlein nicht in die falschen Hände gelangen wird, dass es nicht von falschen Blicken bemerkt wird.
Hier unten gibt es kein Falsch und Richtig, es gibt kein Gut und Böse, doch ich kann nicht sagen, wie das in Zukunft sein wird.
Sollten diese Zeilen je von einem anderen Menschen als von mir oder von Hedwig gelesen werden, bin ich vermutlich längst tot, und bei Gott, wer weiß, was dann vor sich gehen mag in dieser Stadt. In dieser Welt.
Wie ich Hedwig kenne, werden diese Zeilen jedoch von einer Person gelesen, die dafür genau die richtige ist. Hedwig ist der liebste Mensch auf Erden, meine gute Hedwig, doch sie ist auch sehr klug, und sie kann verdammt stur sein.
Nun, da dein Blick sich auf diese Zeilen richtet, wende ich mich direkt an dich.“
Nachdem die Schule aus war, nachdem die letzte Glocke geläutet hatte, hatte er sich sofort aus dem Staub gemacht. Aus der Ziellinie gebracht. Er hatte seinen Koffer an sich gerissen, alles irgendwie hineingestopft und war aus dem Gebäude geeilt. Er wohnte einige Kilometer von seinen Arbeitsplatz entfernt, und wenn er meist im Sommer oft darüber geschimpft hatte, dass er nicht zu Fuß oder zumindest mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren konnte, war er nun froh darüber. Unheimlich froh. Als er endlich in seinem Wagen saß, atmete er erleichtert auf, bevor er den Motor
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