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Zwergensturm

Zwergensturm

Titel: Zwergensturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Mueller-Hammerschmidt
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1. Buch:
Gestohlene Träume
1. Kapitel: Aufbruch

Stadt Pruda, im Nordwesten des Besetzten Landes

    „Fünfunddreißig Jahre!“ Wily hatte seine ranzige Stirn in Falten gelegt. „Fünfunddreißig Jahre … Eine halbe Ewigkeit!“ Haggy sah seinen alten Freund an, der trotz seines hohen Alters immer noch erstaunlich zornig werden konnte. Aber nicht alle Bewohner des Besetzten Landes waren dermaßen unglücklich über die Besatzung. Die meisten hatten sich längst mit ihr abgefunden.
    Wily jedoch nicht. Der alte Kauz stützte sich mit seinen Ellbogen auf die Fensterbank und starrte durch das geschlossene Fenster nach draußen. Es herrschte reges Treiben in Pruda. Die Stadt hatte auch unter der Besatzung nicht viel von ihrer Lebendigkeit verloren. Fußgänger und Pferdekarren mischten sich. Im nahen Hafen wurden immer noch zahlreiche Waren umgeschlagen.
    Die Bewohner ferner Kontinente machten das Beste aus der Situation. Anfänglich hatte das Handelstreiben deutlich nachgelassen, aber nach und nach waren die Händler zurückgekommen. Jetzt tauschten sie ihre Waren eben mit den neuen Machthabern. Irgendwie war alles längst zur Gewohnheit geworden. Für Wily jedoch nicht.
    „Verdammte Dunkelelfen. Sie verkriechen sich in ihrem Palast und lassen die Völker für sich schuften. Ich möchte nur einmal sehen, wie eine dieser verfluchten Bohnenstangen ihre Hände dreckig macht.“ Haggy musste grinsen. Ihm war die große Politik reichlich egal. Die Besatzung hatte begonnen, als er noch ein kleiner Zwerg gewesen war; er konnte sich kaum an die Zeit davor erinnern. Sein Vater sprach manchmal darüber, aber er war nur ein einfacher Jäger gewesen, sodass auch er keine ausgereifte Meinung über das Vorher und das Jetzt hatte – oder sie zumindest nicht äußerte.
    Sein Vater war ein besonders begnadeter Jäger gewesen, das wusste Haggy. Er hatte ihm das Schießen beigebracht, als er noch ein Kind gewesen war. Wie sein Vater liebte Haggy den Knall des Schusses, der im Gewehrlauf gezündet wird. Er liebte den Geruch des Schwarzpulvers, wenn es explodierend das Geschoss aus der Waffe trieb. Er genoss es, den Rückschlag der Waffe in seiner Schulter zu spüren. Als Kind hatte ihn der Rückschlag ein paarmal von den kurzen Beinen gehauen, und trotzdem mochte er es damals schon. Angst vor der Waffe hatte er nie. Vielleicht lag ihm das im Blut.
    „Ach, hör’ doch auf.“ Dieba, Wilys Tochter, war etwa so alt wie Haggy. Wie alt man genau war, interessierte eigentlich niemanden im Besetzten Land. Das Wissen diente zu nichts. Dieba war hübsch anzusehen und wie immer häuslich gekleidet. Sie kam aus der Küche mit einem dampfenden Topf in der linken Hand. Mit der rechten schwang sie einen Löffel, welchen sie gefährlich auf Wily ausrichtete. „Du übertreibst es echt. Uns geht’s doch gut. Das ist die beste Besatzung, die man sich vorstellen kann.“ Ihr Blick war entschlossen, doch sie entspannte sich etwas, sah in den Topf und rührte weiter. „Die Dunkelelfen lassen uns doch in Ruhe. Sie töten nicht, sie morden nicht, und sie führen keine Kriege. Und das bisschen Zehnt, das müssten wir auch bei einem menschlichen Herrscher zahlen. Was willst du denn noch?“
    „Sie rauben uns die Seelen!“ Wily sprang auf. Sein Kopf wurde rot vor Erregung. „Sieh dir diesen Kerl an!“ Er ging auf Haggy zu und nahm dessen rechten Arm in die Hände. Er hielt ihn hoch. „Dieser Arm müsste schmieden! Zwerge schmieden! So einfach ist das. Wofür sonst haben die denn so dicke Arme?“ „Dick?“ Haggy grinste Wily an. „Ach, nenn es halt kräftig“, erwiderte Wily ungestüm. Seine Tochter lachte.
    Haggy hielt sich zurück, er wollte sich nicht in den Streit einmischen. Er wusste ohnehin zu wenig von der alten Zeit, und außerdem hatten die beiden einen derartigen Dickschädel, dass er jetzt schon wusste, wie die Auseinandersetzung ausgehen würde – unentschieden, mit zwei beleidigten Streithähnen.
    Insgeheim gab er Wily allerdings wenigstens zum Teil, recht. Die Angst vor einem Wiedererstarken der Völker hatte das herrschende Dunkelelfengeschwisterpaar schon vor vielen Jahren veranlasst, den Zwergen das Schmieden, den Menschen das Zaubern und den Gnomen das Basteln zu verbieten. Stattdessen schmiedeten jetzt die Menschen. Gezaubert wurde kaum noch von den Völkern des Besetzten Landes, und die Bastelkünste der Gnome waren lange nicht mehr gefragt. Die Besatzung hatte im Grunde genommen zu einem großen Stillstand geführt. Es tat

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