Shanera (German Edition)
seine vorsichtigen Avancen bisher zurückhaltend reagiert hatte, hatte sie ihn auch nicht direkt zurückgewiesen. Wenn er heute gut abschnitt, würde er vielleicht in ihrer Achtung höher steigen. Ob sie es allerdings auf sich nehmen würde, ihre Tempelausbildung durch eine Beziehung zu erschweren, blieb immer noch die Frage. Es war nicht verboten, aber die Ausbildung war hart und kostete viel Zeit. Die meisten zogen es vor, sich allein darauf zu konzentrieren, bis sie ihre zweite Prüfung hinter sich hatten.
Dennoch, auch eine kleine Chance, Zela für sich zu gewinnen, lohnte eine große Anstrengung. Er würde heute sein Bestes geben und dann, spätestens morgen, allen Mut aufbringen und sie fragen, ob es vielleicht eine Chance für sie beide gab. Wenn er sich im Kampf nicht blamierte.
+
Als Shanera das Geröll leise unter ihren Füßen knirschen hörte, der Wind durch ihre Haare strich und ihr Pulsschlag seine Lauffrequenz erreicht hatte, begann sie sich besser zu fühlen. Sie durchteilte den jetzt nur noch dünnen Nebel und ließ einige im Dämmerlicht kreisende Wachvögel unter sich zurück. Langsam wurde es ein wenig heller, und während sie sich anfangs noch sehr auf den Boden vor ihr konzentrieren musste, so war das nun kaum mehr nötig.
Rechts von ihr blieb die Felswand immer in unmittelbarer Nähe, bis auf einige Male, wo Risse und Mulden für Unregelmäßigkeiten sorgten. Über ein paar der größeren Felsrisse waren kleine Brücken gebaut worden, wenig mehr als schmale Stege.
Links von ihr gähnte der endlose Abgrund. Der Grund war von Nebel, Wolken und Dunkelheit verdeckt und nicht mal zu erahnen. Man konnte nur selten an sehr klaren und wolkenlosen Tagen nach unten sehen. Selbst dann war auch nicht mehr zu erblicken als eine unregelmäßige grünliche Fläche, die der Rand des Zentralwaldes sein musste.
Etwa zwei Sandläufe später war es hell geworden und sie konnte die Sonne in ihrem Rücken spüren, wenn sie kurz zwischen den Wolken hervorkam. An einer kleinen Quelle, wo das Wasser in einem schmalen Rinnsal den Felsen herunter tröpfelte, machte sie Rast. In langsamen Zügen trank sie einen ansehnlichen Teil ihres Wasservorrats und füllte dann, am Boden hockend, geduldig den Schlauch an der Quelle wieder auf. Dabei spähte sie in alle Richtungen, entdeckte aber nichts Ungewöhnliches.
Der Weg hinter ihr und vor ihr war frei, soweit sie blicken konnte. Sie würde ohnehin bald diesen Pfad verlassen und mit einer Kletterpartie auf einen höher gelegenen Nebenpfad wechseln. Dieser führte in die nächste von der Hochebene kommende Querrinne – bekannt als „der Riss“. Von dort waren es noch etwa sechs Sandläufe, ein viertel Tag, bis zum Erreichen des Hochplateaus an einer etwas unwegsamen Stelle. Sie hoffte, dort auf keine anderen Jäger oder sonstigen Kintari zu treffen.
Als ein Klippentaucher begann, in ihrer Nähe zu kreisen, machte sie sich wieder auf den Weg. Sie hielt am nächsten Vorsprung nochmals Ausschau, konnte aber weiterhin nichts Auffälliges bemerken. Auch waren keine anderen Klippentaucher in Sicht. Sie beeilte sich dennoch, den Rest der Strecke auf dem Weg zurückzulegen, bis dieser begann, wieder leicht nach unten zu führen.
An einer Stelle, an der ein Büschel von bunten Wimpeln befestigt war, verließ sie den Pfad. Sie band ihren Umhang auf ihr Bündel, befestigte alles und prüfte, ob auch ihr Messer gut am Gürtel der Leggins festgemacht war. Die Brosche wanderte auf ihre Lederweste.
Vorsichtig begann sie ihren Weg die Wand hinauf. An dieser Stelle war sie nicht übertrieben steil und es gab genügend Trittstellen und Haltepunkte, so dass es keine besonders schwierige Kletterpartie war. Trotzdem wusste sie, dass sie sich voll konzentrieren musste, denn auch hier konnte eine Unachtsamkeit den Tod bedeuten.
Auf halbem Weg gab es eine kleine Felsnische, in der sie rastete. Inzwischen war sie schweißüberströmt und trank in gierigen Schlucken aus dem Wasserschlauch. Die Kletterei dauerte länger, als sie in Erinnerung hatte.
Die Sonne war durchgebrochen und bestrahlte die Wand in schräg einfallendem Licht. Kleine Insekten schwirrten zwischen den Moosen, Flechten und Kräutern, die sich überall in den Nischen und Ritzen des Felsens festgesetzt hatten.
Als sie einige Dotterdisteln betrachtete, flatterte ein türkisfarbener Schwebflieger heran. Erstaunt beobachtete sie das Insekt mit seinen überdimensionalen bunten Flügeln und verhielt sich so ruhig wie möglich.
Weitere Kostenlose Bücher