Shanera (German Edition)
Einen Flieger mit dieser Farbe hatte sie noch nie gesehen. Er taumelte einen wenig unbeholfen hin und her und kam langsam näher.
Sehr vorsichtig streckte sie ihre flache, sonnengebräunte Hand aus und legte sie auf einen von der Sonne beschienenen Steinbrocken. Sie hielt den Atem an, während das Insekt auf sie zukam. Als der Flieger sich tatsächlich auf ihre Hand setzte, lächelte sie. Er hatte genau die gleiche Farbe wie ihre Brosche. Das musste ein gutes Omen sein. Sie hob sehr langsam ihre Hand vor ihr Gesicht und beförderte das kleine Tier mit einem sanften Hauch wieder auf seinen unergründlichen Weg.
Nun viel zuversichtlicher gestimmt, tupfte sie sich noch einen Tropfen Wasser auf den Hals und machte sich wieder auf den steilen Weg nach oben.
Langsam bekam sie Hunger. Sobald sie auf dem Pfad in der Querrinne angekommen war, würde sie versuchen, einen Vogel oder ein kleines Beuteltier zu erlegen. Bis dahin dauerte es noch, aber hier an der Außenwand, noch dazu auf einem Kletterpfad, war so etwas kaum möglich. Wenigstens würde sie an einigen Beerensträuchern vorbeikommen, die eine Zwischenmahlzeit abgaben. Leider hatte sie nichts zum Essen mitnehmen können, da alle Vorratskammern Gemeinschaftseigentum und gut bewacht waren.
Inzwischen musste das Dorf längst auf den Beinen sein und man würde sich fragen, wo sie sei. Aber nur Zela würde es wohl ernsthaften Kummer bereiten, wenn sie erfuhr, das Shanera vermisst wurde. Bei den anderen hatte sie sich mit ihren unbequemen Fragen und ihrer eigenbrötlerischen Art wenig Sympathie einhandeln können. Und wenngleich ihre Dienste als Schreiberin, Zeichnerin und auch Jägerin geschätzt wurden, so waren sie doch keineswegs unverzichtbar. Das Dorf war groß genug, um ein ausreichendes Potential an allen Talenten zu haben und konnte diese auch selbst ausbilden.
Sie dachte an ihre Eltern, an die sie nur schwache Erinnerungen hatte. Sie waren auf einer Jagd von einem Felsbruch überrascht und getötet worden. Ein Unfall, wie er eben manchmal vorkam. Eine Pflegefamilie hatte sich um sie gekümmert, bis sie im Alter von sechs Sonnenzyklen in die Kindergruppe gekommen war. Mit dieser hatte sie bis zum Eintritt ins Erwachsenendasein gelebt, unter der Aufsicht von Lehrern und den Älteren.
Danach war sie in die Gemeinschaftshütte umgezogen und hatte sich bemüht, ihre Ausbildung fortzusetzen, indem sie einzelne Lehrer und einige der Älteren um weiteren Unterricht bat. Zumindest war sie hierbei von den meisten als Schülerin akzeptiert worden. Gleichzeitig musste sie aber jetzt auch ihre Dienste für das Dorf ableisten in Form von Jagd und Schreibarbeiten oder Zeichnungen für die Älteren und die Priester.
Für ihre Ambitionen als Erzählerin oder Ausflüge in entferntere Gegenden, um ihre Neugier zu befriedigen, blieb da wenig Raum. Sie musste sich damit begnügen, sich beim Abschreiben alter Schriftrollen möglichst viel Wissen anzueignen. Das war gut, aber nicht gut genug.
In einiger Entfernung schräg über sich konnte sie bunte Wimpel flattern sehen. Bald würde sie den richtigen Weg erreicht haben.
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Zela stapfte mit finsterer Miene in den Andachtsraum. Als die Botin der Gemeinschaftshütte die Nachricht von Shaneras Verschwinden mitsamt ihrer kompletten Ausrüstung gebracht hatte, war ihr sofort klar geworden, dass ihre Freundin das Dorf verlassen hatte. Für immer, oder zumindest für lange Zeit. Die Suchaktion im Dorf und der näheren Umgebung und der zu der gerade unterwegs befindlichen Jagdgruppe geschickte Bote würden erfolglos bleiben, das wusste sie.
Wie konnte sie so etwas tun! Die Dorfgemeinschaft hatte Shanera großgezogen und versorgt, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Jetzt, wo sie erwachsen war und dem Dorf etwas zurückgeben konnte, hatte sie nichts besseres zu tun, als wegzulaufen und die Gemeinschaft im Stich zu lassen. Das war so unverantwortlich und kindisch, es passte gar nicht recht zu Shanera.
Und was noch schlimmer war, wahrscheinlich würde sie, Zela, deswegen auch noch Probleme bekommen. Es war allgemein bekannt, dass sie Shaneras beste Freundin war. In der Dorfgemeinschaft wurde großer Wert auf Zusammenhalt und gegenseitige Aufmerksamkeit unter den Bewohnern gelegt. Gerade als künftige Templerin hatte sie eine Verantwortung dafür, ihre Mitbewohner zum richtigen Gemeinschaftssinn zu ermuntern und sie entsprechend zu beeinflussen.
Mit unbehaglichem Gefühl absolvierte sie zusammen mit den anderen Anwärtern die
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