Sheila Levine ist tot und lebt in New York (German Edition)
Hälse verrenkten, um ihre Tochter, das Wunderkind, zu sehen.
Als Examensgeschenk durfte ich zwischen einer Nasen-OP und einem Pelzmantel wählen. Ich entschied mich für einen Pelzmantel mit Stehkragen.
»Unsere Sheila hat ihren Uni-Abschluss. Sie wird Lehrerin werden.«
Nein, werde ich nicht. Auf keinen Fall werde ich das!
Mom, musstest du denn überall herumerzählen, dass ich Lehrerin werden würde? Du sagtest das mit so viel Stolz. Ruthie, Madeline, Mom, hab ich je das Wort Lehrerin ausgesprochen?
Kaum waren wir an jenem Tag wieder zu Hause, vertiefte sich Dad in seine Zeitung; meine gertenschlanke Schwester Melissa empfing Besuch von einem netten jungen Mann mit einem roten Corvette, meine Mutter setzte für alle Tee auf, und ich ging auf mein Zimmer, um mein restliches Leben zu planen.
MEIN LEBENSENTWURF
Haare glätten lassen
Einen kreativen Job finden
Heiraten etc.
JOBS UND APARTMENTS, MISS BURKE UND MISS MELKIN
»SHEILA, LIEBES, HÖR AUF DEINE MUTTER, IN DEN LEHRBERUF KANN MAN JEDERZEIT WIEDER EINSTEIGEN.«
Am Montag gleich nach meiner Abschlussfeier – die Tinte auf der Urkunde war noch nicht trocken – zog ich in die Welt hinaus, um mein Glück zu versuchen. Mit der New York Times unterm Arm (»Ich fand meinen Job durch die New York Times« ) saß ich in der Long Island Bahn, Richtung Manhattan.
Klopf … klopf … klopf.
»Sheila, Liebes, ich versteh wirklich nicht, warum du dich so abstrampelst, wo du doch einfach unterrichten könntest: Du wärst um drei Uhr zu Hause, hättest Weihnachtsferien, den ganzen Sommer über frei und würdest gut bezahlt. Mrs. Lichtmans Cynthia ist seit zwei Jahren im Schuldienst und findet es prima. Letzten Sommer machte sie Ferien in Europa, und über Ostern war sie in Puerto Rico.«
»Mutter, ich möchte was Kreatives machen.«
»Etwas Kreatives? Tut mir leid, meine studierte Tochter, dass ich dich mit meinen nicht-kreativen Vorschlägen belästige.«
Mir schwebten Jobs wie in Glamour vor – FRAUEN, DIE WAS BEWEGEN – Sally Harding verbringt die meiste Zeit in einem Helikopter, an der Seite ihres gut aussehenden Chefs, der sie nach sechs Tagen Assistenz im kreativen Bereich, geheiratet hat. Auf dem Foto sieht man Sally, blond und schlank, mit nach außen gedrehtem, glattem Haar, in einen weißen Mantel gehüllt – Sally, die gerade neben ihrem stattlichen, gut aussehenden Mann im Helikopter Platz nimmt. Sie beabsichtigen, zwei der teuersten Bilder der Welt zu kaufen, und ohne seine kleine Sally würde Mr. Harding nie so was tun. Hat sie ihren Job über die New York Times gefunden? Wurde Sally auch ständig von Mutter angefleht, sie solle doch unterrichten?
Aufgrund einer Anzeige in der Times machte ich mich auf den Weg zu einer Agentur NUR FÜR HOCHSCHULABSOLVENTEN, SIE FINDEN UNS IN DER FÜNFUNDVIERZIGSTEN WEST, ERSTER STOCK. Wie kam ich eigentlich darauf, man hätte dort auf mich gewartet? Kommen Sie, Sheila, kommen Sie. Hier ist Ihr kreativer Job, und gleich da drüben, durch diese Tür, erwarten Sie der Reporter und der Fotograf von Glamour , sie sind total gespannt auf Ihre tolle Story.
Nein, sie haben leider nicht auf Sheila gewartet. Vielmehr taten sie alles, um sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Im Empfangsbereich – verschmutzte beigefarbene Wände, verschmutzte beigefarbene Stühle – saßen acht »Sheilas« und ungefähr fünf junge »Mannys,« alle mit den Seiten der New York Times Jobbörse unterm Arm, die passenden Angebote mit Bleistift eingekreist.Die Mädchen mit schwarzem Umhang, die Jungs in blauer Cordjacke. Die ganze Truppe hatte Trenchcoats überm Arm. Und wo war Doris Day? Wie hatte sie das geschafft – in New York anzukommen, aus dem Zug zu steigen, einen Mann zu treffen, der ihr seinen Kaffee auf den Rock schüttete und ihr dann die Leitung seiner Werbeagentur übertrug, der ihr sein Taschentuch reichte, wenn sie weinte, und der sie schließlich heiratete? Ist der Unterschied zwischen Sheila Levine und Doris Day denn so groß? Ja, ist er. Doris Day geht auf Beerdigungen, um einem Toten das letzte Geleit zu geben, und Sheila Levine geht zu einer Beerdigung, um sich selbst das letzte Geleit geben zu lassen.
Am Empfang der Agentur NUR FÜR HOCHSCHULABSOLVENTEN bekam jeder eine Karte ausgehändigt, die er ausfüllen musste. Ruthie, wär ich doch nur eine Mommy geworden. Wenn ich nämlich eine Mommy wäre, müsste ich jetzt nicht diese Karte ausfüllen.
»Sheila, Liebes, wenn du dich für den Schuldienst
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