0322 - Ein Hai zeigt die Zähne
Wie reich er wirklich war, wusste niemand genau, wahrscheinlich nicht einmal er selbst.
Wenn er nach seinem Vermögen gefragte wurde, schwieg er und lächelte.
Seine vier Neffen schätzten ihn auf zwanzig Millionen Dollar. Und das war sicherlich nicht zu hoch taxiert, denn Harrison Spencers Fabrik gehörte zu den größten im Staat New York.
Er war fast auf den Tag genau sechzig Jahre alt, als er an einem Spätnachmittag im Januar mit seinem Neffen Daniel Dupont ein folgenschweres Gespräch führte. Es war in der Villa an der Brightwater Avenue, in der Nähe des Public Parks. Vom Kaminzimmer aus konnte man die dürren Äste der Rotbuchen sehen, die bizarr und trostlos in den grauen Winterhimmel ragten.
Es war Harrison Spencers letzte Unterredung, und die Kugeln, die sein Leben um Mitternacht auslöschen sollten, hatte der Mörder schon in das Magazin einer Pistole geschoben.
***
Harrison Spencer schüttelte den Kopf. »Du vergisst, Daniel, dass es Willard, Clark und Dennis zu etwas gebracht haben. Wenn ich ihnen also unter die Arme greife, dann lege ich mein Geld nutzbringend an. Die drei verwalten es gut, jeder auf seine Art.«
Die drei waren Spencers Neffen, Kinder seiner verstorbenen Brüder. Daniel war der einzige Sohn von Harrisons Schwester, die vor drei Jahren bei einem Unfall das Leben verloren hatte. Willard war Verleger, Clark Archäologe - er hielt sich meist in Ägypten auf; Dennis hatte eine Broadway-Revue finanziert und strich beachtlichen Gewinn ein. Nur Daniel Dupont hatte bislang noch nichts Vernünftiges auf die Beine gestellt. Nach einem abgebrochenem Studium pflegte er dem Müßiggang und dem süßen Leben in der New Yorker Halbwelt und ging seinem Onkel ständig um Geld an.
Harrison Spencer musterte seinen Neffen ärgerlich und fuhr dann mit erhobener Stimme fort: »Wenn ich dir Geld gebe, dann bringst du es in leichtfertiger Gesellschaft durch. Es ist immer dasselbe. Aber jetzt, mein Lieber, habe ich die Nase voll. Keinen Cent erhältst du mehr von mir, bevor du nicht einer ordentlichen Arbeit nachgehst und dein Lotterleben aufgibst.«
Daniel Duponts Gesicht war grau geworden vor Wut.
»Na schön« stieß er hervor und fingerte an dem goldenen Rauchverzehrer herum, der vor ihm auf dem Tisch stand. Daniel wog die Figur in der Hand und machte dann, eine heftige Entgegnung auf der Zunge, ein paar Schritte auf seinen Onkel zu, der in einem Sessel saß.
In diesem Augenblick klopfte es.
Spencer blickte zur Tür: »Herein.«
Es war die Hausangestellte, die hier schon von Jugend an Dienst tat. Ihr Blick streifte Daniel Dupont, der noch immer den Rauchverzehrer in der Hand hielt, ihn aber jetzt auf den Rauchtisch zurücksetzte.
»Was gibt es, Caroline?«, fragte Spencer.
Caroline Watson trat näher. »Verzeihen Sie die Störung, Mister Spencer, aber ich bekam eben ein Telegramm von meiner Schwester. Sie hatte wieder einen Herzanfall. Es wäre wohl besser, wenn ich…«
»Natürlich, Caroline. Ich komme schon mal ohne Sie aus. Wenn Sie den Zug um 20.12 Uhr nehmen, dann können Sie schon um 22 Uhr in Kingston sein.«
»Vielen Dank, Mister Spencer.«
»Schon gut, Caroline. Ich wünsche Ihrer Schwester gute Besserung.«
Caroline Watson bedankte sich noch einmal und verließ dann das Kaminzimmer.
Harrison Spencer sah seinen Neffen an.
»Wolltest du außer Geld noch etwas von mir?«
Daniel Dupont starrte verbissen zu Boden.
»Natürlich nicht«, sagte Spencer. »Ich hätte mir diese Frage sparen können. Nun, Daniel, du kennst meinen Entschluss.«
»Ist das dein letztes Wort, Onkel Harrison?«
»Mein letztes Wort.«
»Hoffentlich bereust du’s nicht…«
Daniel Dupont drehte sich um und verließ grußlos das Zimmer.
Es war Mitternacht, als die Holzscheite im Kamin fast aufgezehrt waren.
Harrison Spencer erhob sich, legte das Buch, in dem er seit zwei Stunden gelesen hatte, auf den Kaminsims, nahm einen Schürhaken und stieß die verkohlten Holzscheite auseinander.
Plötzlich hielt er inne. War da nicht ein Geräusch auf der Terrasse? Reglos verharrte der Sechzig] ährige vordem Kamin und lauschte.
Jetzt wurde Spencer von einem Luftzug gestreift, fuhr herum und sah erstaunt auf den Mann der in der geöffneten Terrassentür stand.
»Du? Was willst du? Warum…«
Schnell hob der andere die Pistole und krümmte zweimal den Finger am Abzug.
***
Der Streifenpolizist 4874 hieß Harry Brandt. Er machte seine übliche Runde. Die Januarnächte waren bitterkalt, und trotz der dicken
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