Sherlock Holmes - Das ungelöste Rätsel
drei Tagen ereigneten. Demnach bleiben uns weniger als zweiundsechzig Stunden, um die nächste Tat zu vereiteln.“
„Aber wie? Wenn es keine bestimmten Opfer gibt, die man beschützen könnte, so müsste man zumindest wissen, wo genau der Unbekannte erneut zuschlagen wird.“
Holmes ließ seinen Lippen einen vollendeten Rauchring entweichen. „Das, werter Watson, ist in der Tat unser Kardinalproblem.“ Er schlenderte zum gegenüberliegenden Fenster und ließ sich dort auf der Couch nieder. Ein zufälliger Besucher hätte nun einen Mann gesehen, der träumend mit geschlossenen Augen seine Pfeife genoss; ich wusste es allerdings besser. Das, was auf den ersten Blick wie Müßiggang wirkte, war in Wahrheit Holmes’ individuelle Form von intensiver Arbeit. Während sein Körper schlaff und entspannt dem Nichtstun frönte, arbeitete sein Verstand auf Hochtouren. Noch bevor ich meine letzte nun kalte Makrele vertilgt hatte, war Holmes im Geiste unzählige Analyse-Möglichkeiten durchgegangen, hatte Dutzende von Eventualitäten verworfen und neue Theorien entwickelt.
So düster der Anlass auch sein mochte, für die grauen Zellen meines Freundes wirkte er wie Ambrosia. Wie ein Raubtier hatte er Witterung aufgenommen. Und je verzwickter das Problem, je bedrängter die Situation, umso schärfer arbeitete sein Verstand. In diesem Falle sollte sich jedoch herausstellen, dass ich bei meinen Analysen ungewollt nicht nur den Killer sondern in Teilen zumindest auch seinen Verfolger charakterisiert hatte. Sherlock Holmes war sich seiner überragenden analytischen Fähigkeiten durchaus bewusst, und so nannte auch er eine nicht geringe Portion Arroganz sein Eigen. Diese durchaus menschliche Regung erhielt in den folgenden Tagen einen erheblichen Dämpfer; musste Holmes sich selbst gegenüber doch eingestehen, dass auch er die Indizien nicht so beachtet hatte, wie es ihnen angemessen gewesen wäre. Wie hätte er aber auch ahnen können, dass es Phänomene auf dieser Erde gab, bei denen die Gesetze der Physik und damit auch der klassischen Logik versagten?
In den beiden folgenden Tagen brütete Holmes ausschließlich über dem ihm selbst gestellten Problem. Wenn auch die meisten Fälle durch private oder öffentliche Klienten an ihn herangetragen wurden, so geschah es durchaus nicht selten, dass er mangels Angeboten gleichsam in zwei Rollen schlüpfte: in die des Auftraggebers und die des Ermittlers. Ohne Zweifel lag ihm das Leid der Opfer stets am Herzen, doch um der Wahrheit die Ehre zu geben, so strebte Sherlock Holmes ein für ihn weitaus höher stehendes, ideelles Ziel an.
Sein größter Triumph, ja die Erfüllung seines Daseins dokumentierte sich jeweils in der Lösung eines unlösbar scheinenden Rätsels.
Als ich an jenem Sonntag zum Frühstück herunter kam, erkannte ich auf den ersten Blick, dass mein Mitbewohner den Großteil der Nacht über seinen Aufzeichnungen verbracht hatte. Die Zeiger der Uhr schritten unerbittlich gegen ihn voran. Die Tafel war wohl in den vergangenen Stunden unzählige Male vollgeschrieben und wieder ausgewischt worden. Auf Holmes’ Tisch und überall am Boden lagen Papiere verstreut. Einige Blätter waren mit wirren Pfeildiagrammen bedeckt, so dass sie den Schnittvorlagen eines verrückten Schneiders ähnelten. Ein Großteil war zerknüllt oder zerrissen. Auch ohne besondere deduktive Fähigkeiten konnte man ablesen, wie es um die Auflösung der mysteriösen Messer-Morde stand.
Umso mehr erstaunte es mich, Holmes entspannt in seinem Sessel sitzend vorzufinden. Bei meinem Eintreffen legte er seine Vor-Frühstückspfeife ab und begab sich an den Esstisch. „Guten Morgen, Watson“, sagte er beinahe fröhlich. „Ein schöner Tag heute, nicht wahr?“
Vor Schreck hätte ich mich beinahe neben meinen Stuhl gesetzt.
Wenn es etwas gab, was Holmes zutiefst verabscheute, so war es inhaltsloses Geschwätz. Für die Ausnahme von der Regel konnte es nur einen Grund geben.
„Guten Morgen, Holmes“, entgegnete ich stockend. „Haben Sie etwa ... soll das heißen ...?“
„Ob ich den Fall gelöst habe, wollen Sie wissen?“ Für einen kurzen Moment starrte Holmes seinen Toast an, als könne er darauf die Antwort ablesen. „Nun, für die vollständige Lösung existieren leider noch zu viele unbekannte Faktoren“, erläuterte er. „Ich glaube aber dennoch, dem Problem ein gutes Stück nähergekommen zu sein.“
„Und?“ In meiner Aufregung vergaß ich Kaffee, Ei und Schinken.
„So
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