Sherlock Holmes - gesammelte Werke
diesem schönen Abend einen Spaziergang machen wollen, werde ich Sie sehr gerne mit zwei Sehenswürdigkeiten bekannt machen.«
Nach fünf Minuten befanden wir uns auf der Straße und wandten uns dem Regentenzirkus zu.
»Sie wundern sich«, sagte mein Gefährte, »warum Mycroft seine Gaben nicht als Detektiv verwertet? Dazu ist er nicht imstande.«
»Aber ich dachte, Sie sagten ...«
»Ich sagte, er sei mir in der Beobachtung und in der Schlussfolgerung überlegen. Bestände die Detektivkunst nur darin, dass man im Lehnstuhl sitzt und scharfe Denkarbeit verrichtet, würde mein Bruder der größte Kriminalagent sein, der jemals gelebt hat. Aber er ist ohne Ehrgeiz und Tatkraft. Er würde zur Bestätigung seiner eigenen Lösungen nicht einmal einen Umweg machen wollen und lieber sich des Irrtums zeihen lassen, als sich der Mühe des Wahrheitsbeweises unterziehen. Wie oft bin ich mit einem Problem vor ihn getreten und habe eine Erklärung erhalten, die sich nachher als zutreffend erwiesen hat. Und doch war er gänzlich unfähig, die unerlässlichen Vorarbeiten zu erledigen, ohne die der Fall gar nicht vor den Richter oder die Geschworenen hätte gebracht werden können.«
»Es ist also nicht sein Beruf?«
»Nein, kein Gedanke! Was mir zur Gewinnung des Lebensunterhaltes dient, ist für ihn nicht mehr als das Steckenpferd eines Dilettanten. Er ist ein vorzüglicher Rechner und daher Bücherkontrolleur bei einigen Behörden. Mycroft wohnt in der Pall Mall und geht jeden Morgen um die Ecke nach Whitehall und jeden Abend zurück. Jahraus, jahrein ist das seine einzige Körperbewegung; nirgendwo ist er sonst anzutreffen, außer eben im Diogenes-Klub, der seiner Wohnung gerade gegenüberliegt.«
»Ich kann mich an diesen Namen nicht erinnern.«
»Das glaub ich wohl. Sie wissen, in London gibt es Leute genug, die, sei es aus Liebe zur Einsamkeit, sei es aus Menschenscheu, mit ihren Mitbürgern keinen Umgang pflegen wollen. Einen bequemen Stuhl und die neuesten Zeitschriften verachten sie darum doch nicht. Ihren Wünschen gerecht zu werden, wurde der Diogenes-Klub gegründet, der nun die ungeselligsten und am wenigsten in einen Klub passenden Einwohner Londons umfasst. Kein Mitglied darf von den anderen auch nur die geringste Notiz nehmen. Außer im Fremdenzimmer darf unter keinen Umständen ein Wort gesprochen werden, und drei Verstöße hiergegen genügen, wenn sie zur Kenntnis des Vorstandes gelangen, den Schwätzer aus dem Klub auszustoßen. Mein Bruder war einer der Gründer, und ich selbst habe gefunden, dass dort eine die Nerven ungemein beruhigende Atmosphäre herrscht.«
Unter diesen Gesprächen hatten wir die Pall Mall erreicht. Unweit des Carltontheaters blieb Sherlock Holmes vor einer Tür stehen und ging mit der Warnung, ich solle schweigen, in den Hausflur voran. Durch eine Glastür konnte ich einen schnellen Blick in ein großes, üppig ausgestattetes Zimmer werfen, in dem eine beträchtliche Anzahl von Männern saß und Zeitungen las, jeder für sich in seinem Winkel. Holmes führte mich in ein kleines Zimmer zur Straße zu, verließ mich dann auf eine Minute und kam in Begleitung eines Mannes zurück, der niemand anders sein konnte als sein Bruder.
Mycroft Holmes war viel größer und stämmiger als Sherlock. Man musste ihn geradezu dick nennen, aber sein Gesicht hatte trotz seines massiven Aussehens doch noch etwas von der Schärfe des Ausdrucks bewahrt, die in den Zügen seines Bruders so bemerkenswert war. Seine Augen, die eine eigentümliche, verschwommen hellgraue Färbung besaßen, schienen beständig jenen in weite Ferne schweifenden, innerlichen Blick auszusenden, den ich bei Sherlock nur in Augenblicken der höchsten Kraftanspannung bemerkt hatte.
»Es ist mir angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er und streckte seine breite, flache, einer Seehundflosse nicht unähnliche Hand aus. »Seit Sie angefangen haben, von meinem Bruder zu schreiben, ist sein Name in aller Munde.«
Die beiden Brüder saßen zusammen im Bogenfenster des Klubs und warfen hin und wieder einen Blick hinaus auf die belebte Pall Mall.
»Wer den Menschen studieren will, der muss hierher kommen«, sagte Mycroft. »Sieh nur diese prächtigen Typen! Betrachte nur zum Beispiel die beiden Männer, die auf uns zukommen!«
»Der Billardmarkör und der andere?«
»Ganz recht. Was machst du aus dem anderen?«
Die beiden Beobachteten waren dem Fenster gegenüber stehen geblieben. Leichte Kreidestriche über der
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