Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Westentasche waren das Einzige, das für meine Augen bei dem einen an das Billard erinnerte. Der andere, von kleiner Gestalt und dunkler Hautfarbe, hatte seinen Hut nach hinten geschoben und trug verschiedene Pakete unter dem Arm.
»Ein alter Militär, sehe ich recht«, sagte Sherlock.
»Und erst vor kurzem entlassen«, bemerkte der Bruder.
»Hat in Indien gedient.«
»Und zwar als Unteroffizier.«
»Artillerie, denk ich mir«, sagte Sherlock.
»Und Witwer.«
»Aber mit einem Kind.«
»Kindern, mein lieber Junge!«
»Halt«, sagte ich lachend, »das ist etwas zu viel!«
»Sicher«, erwiderte Sherlock, »kann man unschwer erkennen, dass ein Mann mit solcher Haltung, so sichtlichem Autoritätsbewusstsein und sonnenverbrannter Haut ein Militär ist, und zwar einer, der über dem Gemeinen stand, und dass er Indien vor kurzem verlassen hat.«
»Dass er noch nicht lange aus dem Dienst geschieden ist, sieht man daran, dass er noch seine Kommissstiefel trägt«, bemerkte Mycroft.
»Den Kavalleriestreifen hat er nicht, aber er hat seinen Hut auf einer Seite getragen, wie sich aus dem helleren Teint über der einen Braue ergibt. Sein Körpergewicht spricht gegen den Pionier; also war er Artillerist.«
»Seine tiefe Trauer zeigt, dass er eine ihm sehr nahestehende Person verloren hat, und der Umstand, dass er selbst einkaufen geht, lässt vermuten, dass es seine Frau war. Was er gekauft hat, ist für Kinder, wie Sie sehen. Da eine Klapper darunter ist, muss eines noch sehr jung sein. Wahrscheinlich ist die Frau im Kindbett gestorben. Das Bilderbuch unter seinem Arm lässt darauf schließen, dass er noch ein zweites Kind zu bedenken hat.«
Es dämmerte mir das Verständnis für meines Freundes Bemerkung auf, sein Bruder besitze noch schärferen Spürsinn als er selbst. Lächelnd warf er mir einen bezeichnenden Blick zu. Mycroft nahm eine Prise aus seiner Schildkrotdose und strich sich mit einem großen rotseidenen Taschentuch die verstreuten Krümel von seinem Rock.
»Nebenbei bemerkt, Sherlock«, sagte er, »man hat mir da einen Fall vorgelegt, der ganz nach deinem Sinne wäre, ein sehr hübsches Problem. Ich habe mich wirklich nicht dazu aufraffen können, der Sache auf den Grund zu gehen, aber sie hat mir wenigstens Anlass zu einigen recht netten Spekulationen gegeben. Wenn dir mit den Tatsachen gedient ist ...«
»Mein lieber Mycroft, du würdest mir das größte Vergnügen bereiten!«
Der Bruder kritzelte ein paar Worte auf ein Blatt seines Notizbuches, klingelte dem Kellner und gab es ihm.
»Ich habe Mr Melas gebeten herüberzukommen«, sagte er. »Er wohnt über mir, und da wir ein bisschen bekannt miteinander sind, kam er in seiner Verlegenheit zu mir. Mr Melas ist von Geburt ein Grieche, soviel ich weiß, und ein hervorragender Sprachenkenner. Seinen Lebensunterhalt verdient er zum Teil als Dolmetscher vor Gericht, sodann dient er reichen Reisenden aus dem Orient, die Gäste der Hotels in der Northumberland Avenue sind, als Führer. Ich denke, ich lasse ihn selbst sein sehr merkwürdiges Erlebnis in seiner eigenen Weise erzählen.«
Nach einigen Minuten trat ein kleiner, untersetzter Mann ins Zimmer, dessen olivenfarbenes Gesicht und kohlschwarzes Haar die südliche Herkunft verrieten, obwohl seine Sprache die eines gebildeten Engländers war. Lebhaft trat er auf Sherlock Holmes zu, tauschte einen Händedruck mit ihm, und seine dunklen Augen funkelten vor Vergnügen, als er erfuhr, der berühmte Fachmann wünsche seine Geschichte zu hören.
»Es scheint mir, die Polizei will mir nicht Glauben schenken; es ist so, Sie können sich darauf verlassen!«, begann er klagend. »Nur weil sie vorher niemals etwas davon gehört haben, denken sie, so etwas sei nicht möglich. Aber ich weiß, ich werde nie wieder ruhig, bis ich erfahren habe, was aus diesem armen Mann mit dem Heftpflaster im Gesicht geworden ist.«
»Ich bin ganz Ohr«, sagte Sherlock Holmes.
»Heute ist Mittwochabend«, sagte Mr Melas, »gut, dann war es also am Montagabend, erst vor zwei Tagen, als die Geschichte passierte. Ich bin Dolmetscher, wie Ihnen mein Nachbar vielleicht schon mitgeteilt hat. Ich übersetze alle Sprachen – oder fast alle –, aber da ich von Geburt Grieche bin und einen griechischen Namen trage, gibt mir diese Sprache auch die Hauptarbeit. Lange Zeit bin ich der erste griechische Dolmetscher in London gewesen, und man kennt mich in den Hotels sehr gut.
Es kommt nicht selten vor, dass man mich zu ungewohnter Stunde
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