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Sherlock Holmes - gesammelte Werke

Sherlock Holmes - gesammelte Werke

Titel: Sherlock Holmes - gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anaconda
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ihm wohlbekannt. Deshalb verschwieg er sein schmachvolles Geheimnis. Und doch hätte das Gesetz seinen Schutz selbst einem so erbärmlichen Menschen, wie er es war, nicht vorenthalten. Ja, ja, Lanner, der Schild des Gesetzes deckt den Verfolgten nicht immer in der Stunde der Gefahr, aber das Schwert der Gerechtigkeit ist stets bereit, die Missetat zu rächen.«
    Das ist die merkwürdige Geschichte des Doktors in der Brook Street und seines Patienten. Von den Mördern hat die Polizei seit jener Nacht keine Spur entdeckt; man vermutet, dass sie sich unter den Passagieren des englischen Dampfers »Nora Creina« befanden, der vor einigen Jahren an der portugiesischen Küste, wenige Meilen nördlich von Porto, mit Mann und Maus untergegangen ist. Das Verfahren gegen den Diener musste aus Mangel an vollgültigen Beweisen eingestellt werden, und der Mord in der Brook Street blieb ein Geheimnis.

D ER GRIECHISCHE D OLMETSCHER
    Während meiner langen und innigen Bekanntschaft mit Sherlock Holmes hatte ich ihn höchst selten auf seine Verwandten Bezug nehmen hören und kaum jemals auf seine eigene Jugend. Dieser Mangel an Mitteilsamkeit hatte den über das allgemein Menschliche hinausgehenden Eindruck, den er auf mich machte, noch gesteigert, und er erschien mir manchmal als einsamer Fels im Meer, als Verstandesmensch ohne Herz, ebenso bar menschlicher Sympathie wie hervorragend durch seine Intelligenz. Seine Abneigung gegen das weibliche Geschlecht und gegen die Anknüpfung neuer Freundschaftsbande war bezeichnend für seinen etwas ungemütlichen Charakter, nicht minder bezeichnend dafür war aber diese geflissentliche Unterlassung der Bezugnahme auf Verwandte. Da überraschte er mich eines Tages umso mehr, als er anfing, mir ausführlicher von seinem Bruder zu erzählen.
    Es war an einem Sommerabend nach dem Tee, und die Unterhaltung, die sich sprunghaft bewegt hatte – von den Golfklubs zu den Ursachen der Veränderung in der schrägen Stellung der Ekliptik –, kam schließlich auf die Frage des Atavismus und der hereditären Anpassung.
    Wir sprachen gerade darüber, wie weit eine besondere Gabe eines Individuums der Abstammung zuzuschreiben sei und wie weit der eigenen Ausbildung.
    »In Ihrem eigenen Fall«, sagte ich, »scheint es mir nach allem, was Sie mir erzählt haben, ganz klar, dass Ihr Beobachtungsvermögen und Ihre eigentümliche Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen, nur Ihrer eigenen systematischen Übung zu danken sind.«
    »In gewissem Grad«, sagte er nachdenklich. »Meine Vorfahren waren Landedelleute, die, wie es scheint, ganz das Leben geführt haben, wie es in ihrem Stand üblich ist. Nichtsdestoweniger liegt mir die Richtung, die ich genommen habe, im Blut, und es mag sein, sie rührt von meiner Großmutter her, die eine Schwester des französischen Malers Vernet war. Künstlerblut kann sich in der allerverschiedensten Weise zum Ausdruck bringen.«
    »Wie wissen Sie aber, dass Vererbung vorliegt?«
    »Weil mein Bruder Mycroft die gleiche Gabe in höherem Grad besitzt als ich.«
    Das war in der Tat etwas Neues für mich. Wenn es noch einen so eigentümlich veranlagten Mann in England gab, warum hatten weder Polizei noch Publikum etwas von ihm gehört? So fragte ich und fügte andeutend hinzu, es sei nur die Bescheidenheit meines Freundes, die ihn die Überlegenheit seines Bruders anerkennen lasse. Holmes lachte über diese Vermutung.
    »Mein lieber Watson«, sagte er. »Ich protestiere dagegen, dass man die Bescheidenheit zu den Tugenden rechnet. Dem strengen Denker sollte alles genau so erscheinen, wie es in Wirklichkeit ist, und die Selbstunterschätzung ist ebenso eine Abweichung von der Wahrheit wie die Übertreibung des eigenen Könnens. Wenn ich also sage, Mycroft besitzt ein besseres Beobachtungsvermögen als ich, dann können Sie ruhig annehmen, ich rede die genaue und buchstäbliche Wahrheit.«
    »Ist er jünger als Sie?«
    »Sieben Jahre älter.«
    »Wie kommt es, dass man ihn nicht kennt?«
    »Oh, er ist in seinem eigenen Kreis sehr gut bekannt.«
    »Wo also?«
    »Nun, zum Beispiel im Diogenes-Klub.«
    Ich hatte von diesem Verein noch nie etwas gehört, und das muss sich auf meinem Gesicht ausgedrückt haben, denn Sherlock Holmes zog seine Uhr und sagte:
    »Der Diogenes-Klub ist der wunderlichste Klub in London, und Mycroft ist eines seiner wunderlichsten Mitglieder. Er hält sich dort regelmäßig auf von dreiviertel fünf bis zwanzig Minuten vor acht. Jetzt ist es sechs Uhr; wenn Sie also an

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