Sheylah und die Zwillingsschluessel
ein Haus aufsuchen und um ein Telefonat bitten. Sie irrte fast eine Stunde im Wald umher und die Bäume standen so dicht, dass ihr ständig tiefhängende Äste gegen Gesicht und Arme schlugen. Sie holte sich Kratzer und Prellungen am gesamten Körper, wodurch ihre Laune immer schlechter wurde. Nach einer Ewigkeit wurde der Wald endlich lichter und Sheylah rannte vor Freude los. Eine Straße, eine Wohnsiedlung oder sogar eine Stadt – irgendetwas musste da vorne sein. Doch was sie vor sich sah, ließ sie an ihrer geistigen Verfassung zweifeln.
Der Wald endete so abrupt, als wäre er mit einem geraden Schnitt abgetrennt worden. Vor ihren Augen erstreckte sich eine endlos weite Wüste. „Ich bin doch verrückt“, flüsterte sie und blieb genau an der Linie zwischen Wald und Wüste stehen. Sollte sie den einen Schritt wagen? Zweifelnd drehte sie sich nochmal zum Wald um. Ihre Überlebenschancen standen dort sicher besser als in der Wüste. In dem Ödland würde sie nach wenigen Stunden verdurstet und von der Sonne verbrannt sein. Verdammt! Hier sollte es überhaupt keine Wüste geben. Doch eh sie den Gedanken zu Ende bringen konnte, war der Wald verschwunden und sie stolperte erschrocken zurück. Rings um sie her erstreckte sich die Einöde der Wüste und Sheylah konnte nichts anderes tun, als verdutzt dazustehen. Nicht einmal das immer stärker werdende Brennen an ihren Fußsohlen nahm sie wahr und als sie sich langsam von ihrem Schock erholte, schwirrten auch schon tausend Fragen und Gedanken durch ihren Kopf. War der Wald vielleicht nur eine Fata Morgana gewesen? Vielleicht irrte sie hier schon lange umher und hatte ihn sich vor Wassermangel nur eingebildet. Das würde das Brennen ihrer Füße erklären, als sie auf dem vermeintlichen Gras stand. Aber woher stammten dann all ihre Kratzer und Prellungen?
An einem Sandkorn konnte sie sich wohl kaum derart verletzen. Nein, der Wald muss echt gewesen sein! Aber wo in Gottes Namen war er dann hin? Mit zitternden Händen holte sie Tarem hervor. Tarem war der Schlüssel, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte und diese wiederum von der ihren. Leider hatte Sheylah ihre Oma Alice nie kennengelernt, aber ihre Mutter hatte immer gesagt, dass Sheylah ihr Ebenbild sei. „Tarem muss beschützt werden!“, hatte ihre Mutter gesagt, damals, vor drei Jahren, als sie den Schlüssel zu Sheylahs achtzehntem Geburtstag an sie weitergegeben hatte. Zwei Wochen später war sie völlig unerwartet gestorben. Wie ihre Oma zu dem Schlüssel gekommen war? Ihre Oma wurde im Alter von sechs Jahren mitten auf der Straße in Berlin gefunden. Alles, was sie an sich trug, war der Schlüssel gewesen sonst nichts. Niemand konnte sich ihr plötzliches Auftauchen erklären, sie selbst eingeschlossen. Und die Ärzte hatten vermutet, dass sie sich den Kopf gestoßen und ihr Gedächtnis verloren hatte. Oma Alice sprach andauernd davon‚ dass der Schlüssel Tarem beschützt werden müsse. Man adoptierte sie, warf sie aber hinaus, als sie mit zweiundzwanzig Jahren Michelle, Sheylahs Mutter bekam. Michelle hatte ihren Vater nie kennengelernt – genau wie Sheylah den ihren nicht. Alles, was sie wusste, war, dass er aus Großbritannien stammte, für drei Jahre nach Berlin zog, ihre Mutter heiratete und wieder verschwand. Oma Alice starb zwei Wochen nach dem achtzehnten Geburtstag von Sheylahs Mutter und die war genau zwei Wochen nach Sheylahs achtzehntem Geburtstag gestorben. Beide waren keines gewaltsamen oder krankheitsbedingten Todes gestorben, sondern einfach eingeschlafen und nie wieder aufgewacht.
Niemand konnte die genaue Todesursache feststellen. Seltsam war allerdings, dass beide – Oma Alice und ihre Mutter Michelle – den Schlüssel ihrer Tochter zum Geburtstag übergeben hatten. Das waren zu viele Zufälle und Sheylah fragte sich, ob sie das gleiche Schicksal erwartete, wenn sie den Schlüssel jemals aus den Händen gab. Sie war fest davon überzeugt, dass die Todesfälle mit dem Schlüssel zu tun hatten und sie befürchtete, dass ein Fluch auf ihm lag und sie ebenfalls sterben würde, wenn sie ihn verlor. Deshalb legte sie ihn zu keiner Zeit ab. Sie schlief, arbeitete und duschte mit ihm und damit niemand auf den zweifellos kostbaren Rubin des Schlüssels aufmerksam wurde, trug sie ihn immer verborgen unter ihrer Kleidung. Und manchmal, wenn es ihr nicht gutging, wurde er plötzlich warm und glühte auf. Das war natürlich vollkommen unmöglich, aber es fühlte sich so an, als spüre er ihre
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