Shining Girls (German Edition)
wenn man bei der Kirmes auf der Berg-und-Tal-Bahn fährt und das Gefühl hat, jemand hätte einem die Eingeweide umgestülpt.
Als sie ihm heftig und übertrieben fröhlich zuwinkte, nach dem Motto:
Hey, Mister, ich sehe, dass du mich anstarrst, du Wichser
, hob er als Antwort eine Hand. Und hielt sie oben (supergruselig), bis sie um die Ecke Ridgeland Street verschwand, weil sie ihre übliche Abkürzung durch die Gasse vermieden hatte, um so schnell wie möglich aus seinem Blickfeld zu kommen.
Harper
22 . November 1931
Es ist, als wäre er wieder ein kleiner Junge, der sich in die Bauernhäuser der Nachbarschaft schleicht. Sich in den stillen Häusern an den Küchentisch setzt, sich zwischen die kühlen Laken eines fremden Bettes legt, die Schubladen inspiziert. Die Sachen der Leute verraten ihre Geheimnisse.
Er hatte immer gespürt, ob jemand im Haus war; damals und auch seither jedes Mal, wenn er in ein verlassenes Haus eingebrochen war, um etwas zu essen abzustauben oder ein vergessenes, billiges Schmuckstück, das er versetzen konnte. Ein leerstehendes Haus verströmt ein bestimmtes Gefühl. Es ist reif vor Abwesenheit.
Dieses Haus ist voll von einer Erwartung, die Harpers Arme mit Gänsehaut überzieht. Es ist jemand mit ihm hier. Und das ist nicht der Tote, der im Flur liegt.
Der Kronleuchter über der Treppe wirft sanftes Licht auf den dunklen Holzboden, der von frischem Bohnerwachs schimmert. Die Tapete ist neu, ein dunkelgrün-cremefarbenes Rautenmuster, das sogar Harper als geschmackvoll einordnen kann. Links ist eine helle, moderne Küche, die direkt aus dem Sears-Katalog zu stammen scheint, mit Resopalschränken und einem nagelneuen Tischbackofen und einem Kühlschrank und einem silberfarbenen Wasserkessel auf dem Herd, alles ist bereit. Wartet auf ihn.
Er schwingt seine Krücke in einem weiten Kreis über das Blut, das sich wie ein Teppich über die Dielen ausbreitet, und hinkt auf die andere Seite, um einen besseren Blick auf den toten Mann zu haben. Der Mann hält mit starrem Griff einen Truthahn, dessen graurosa, pickelig gerupfte Haut mit geronnenem Blut verschmiert ist. Der Typ ist stämmig, trägt ein Frackhemd, graue Hosen, Hosenträger und elegante Schuhe. Kein Jackett. Sein Kopf ist zermalmt worden wie eine Melone, man kann gerade noch Hängebacken mit Bartstoppeln erkennen und blutunterlaufene Augen, die weit aufgerissen vor Schreck aus seinem entsetzten Gesicht starren.
Kein Jackett.
Harper hinkt an der Leiche vorbei, folgt der Musik in den Salon, erwartet halb, hier den Besitzer in einem Sessel vor dem Kamin sitzend vorzufinden, den Schürhaken, mit dem er den Kopf des Mannes eingeschlagen hat, quer über die Beine gelegt.
Das Zimmer ist leer. Allerdings brennt das Feuer. Und dort steht wirklich ein Schürhaken neben dem Gestell für die Holzscheite, das gut gefüllt ist, als würde er erwartet. Das Lied kommt aus einem gold-burgunderfarbenen Grammophon. Auf dem runden Etikett der Schallplatte steht «Gershwin». Natürlich. Durch einen Vorhangspalt sieht er das billige Sperrholz, mit dem die Fenster vernagelt sind und die das Tageslicht aussperren. Aber warum soll all das hier hinter vernagelten Fenstern und einem Abbruchhinweis versteckt werden?
Um zu verhindern, dass es von anderen Leuten entdeckt wird.
Eine Kristallkaraffe, die mit honigfarbener Flüssigkeit gefüllt ist, steht neben einem einzelnen Whiskeyglas mit Eiswürfeln auf dem Beistelltisch. Auf einem Spitzendeckchen. Das muss verschwinden, denkt Harper. Und er muss etwas wegen der Leiche unternehmen. Bartek, denkt er, ruft sich den Namen ins Gedächtnis, den die blinde Frau gesagt hat, bevor er sie erwürgte.
Bartek hat nie hierhergehört
, sagt die Stimme in seinem Kopf. Aber Harper gehört hierher. Das Haus hat auf ihn gewartet. Es hat ihn aus einem bestimmten Grund hierhergerufen. Die Stimme in seinem Kopf flüstert:
Zu Hause
. Und genauso fühlt es sich an, viel mehr als die jämmerliche Bleibe, in der er aufgewachsen ist, oder die Abfolge von schäbigen Pensionen und Bruchbuden, zwischen denen er sein gesamtes Erwachsenenleben herumgezogen ist.
Er lehnt die Krücke an den Sessel und schenkt sich ein Glas aus der Karaffe ein. Das Eis klirrt, als er die Flüssigkeit kreisen lässt. Erst halb geschmolzen. Er nimmt langsam einen Schluck, bewegt ihn im Mund, lässt ihn feurig die Kehle hinunterrinnen. Canadian Club. Beste Schmuggel-Importware, er prostet der Luft zu. Es ist lange her, seit er etwas zu trinken
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