Shit
blickte wieder zum Fenster am Ende des langen Flurs. Die letzten Sonnenstrahlen leuchteten in Regenbogenfarben. Magisch zogen ihn diese Farben an.
Mitten in der am Horizont langsam versinkenden Sonne sah er wieder dieses rote Käppchen.
Aber die Kopfbedeckung war kleiner und das Gesicht darunter größer geworden.
„Komm zu mir“
, hörte er plötzlich ein leises Flüstern. Und noch mal:
„Komm zu mir!“
.
Er stand auf und wurde wie eine Marionette von einer fremden Hand in Richtung der untergehenden Sonne geführt, in deren Strahlen er diese Figur schemenhaft wahrnahm.
Er spürte plötzlich einen leichten Windhauch neben sich.
War er aus seinem Körper entstiegen?
Direkt neben ihm ging im Gleichschritt sein gläsernes Ebenbild, ein wandelnder Spiegel.
Die Sonne blendete ihn.
Er spürte, wie sie auf sein Gesicht brannte.
Immer wieder sah er vor seinen tränenden Augen schemenhaft diese Figur, die ihn aufforderte, der Sonne entgegenzugehen.
Er blickte auf den Boden und stand auf dem hellen Rechteck, welches die Sonne durch das Fenster auf dem dunklen verdreckten Fußboden des Flurs gezeichnet hatte.
War dies ein magisches Feld?
Sein Oberkörper schwankte, aber er fiel nicht zu Boden. Die Sonne brannte immer stärker in seinen Augen, in denen sich die Tränenflüssigkeit sammelte und den Blick verzerrte.
Er trat ans Fenster, packte den Griff, öffnete es und atmete tief durch, ehe er sich auf dem Sims ab und winkelte den rechten Fuß anwinkelte.
Dann hörte er einen grellen Schrei, der die friedliche Stille durchdrang wie eine Sirene:
„Nein, tu das nicht!“
Marco blickte sich kurz um.
Dann verlor er das Gleichgewicht.
Der Schrei hinter ihm verebbte.
Er flog ins Unendliche.
Nein, er schwebte.
Jetzt war er frei, frei von allem, was ihn bedrückte.
Männer in blauen Uniformen rannten wild durcheinander.
Sie wurden immer größer, als er auf sie zuschwebte.
Er blickte in ihre angstverzerrten Augen.
Dann spürte er den Aufschlag.
Nur Bruchteile von Sekunden.
Sein Körper zerbarst wie ein vom Tisch gefallenes Glas.
In den Scherben seiner zersplitterten Körperteile spiegelte sich noch einmal für kurze Zeit die Sonne.
Eine warme Flüssigkeit floss aus seinem Mund.
Rot.
Rot auf dem grauen Asphalt
Dann wurde es still.
Rabenschwarze Dunkelheit breitete sich aus.
Er hatte den Weg in die Ewigkeit angetreten.
Tom Schneider lehnte sich weit aus dem Fenster und blickte entsetzt nach unten.
Um den Kopf des Jungen breitete sich eine Blutlache aus.
Schwarze Ringe kreisten um Toms Augen und entfernten sich spiralförmig aus seinem Blickwinkel.
Als er Marcos Kopf eingerahmt von frischem Blut erblickte, dröhnte ein rhythmisches Pochen in seinen Schläfen, wie an jenem Tag, als er erfahren hatte, dass Sabine auf Heroin war.
Er dachte nur noch, wie schnell ein Tag ein ganzes Leben verändern kann, stützte sich an der Wand ab, tastete mit den Händen nach hinten, schwankte zurück, legte sich auf die Holzbank und verlor das Bewusstein. Er spürte nicht mehr den nassen Lappen, den Frau Weiß ihm auf die Stirn legte.
Rainer Schamke stürzte aus seinem Büro.
„Wer war das?“, fragte er Waltraud Weiß
„Sabine. Tom hat Sabine geflüstert, bevor er ohnmächtig wurde“, sagte Waltraud Weiß mit zitternder Stimme.
„Aber ich versteh das nicht. Es war ein Junge. Kein Mädchen!“
Als Tom Schneider erwachte, lächelte ihn ein vertrautes Gesicht liebevoll an.
Monika Nabler legte ihre Hand auf seinen Unterarm und blickte ihm tief in die Augen.
„Das schaffen wir schon!“, flüsterte sie.
„Wir?“, fragte Schneider mit brüchiger Stimme.
Sie nickte und lächelte.
19.
Am Abend zuvor hatte Kriminalhauptkommissar Eccarius die Klassenlehrerin Carola Müller angerufen.
Bevor sie die Tür öffnete, atmete sie noch einmal tief durch. Hilflos und verzweifelt stand die Lehrerin vor der Klasse. Sie suchte vergeblich nach den richtigen Worten und konnte ihre Sprachlosigkeit nur schwer überwinden.
„Seid ruhig, Leute“, flüsterte sie und fügte hinzu: „Bitte!“
Die einzelnen Grüppchen im Klassenraum lösten sich auf und die Schüler setzten sich auf ihre Plätze.
„Ich muss euch heute eine traurige Nachricht überbringen.“
Sie setzte sich an den Tisch, faltete die Hände wie zum Gebet, stützte ihre Stirn auf den erhobenen Fingerspitzen ab und schloss die Augen. Die Gespräche verstummten.
„Marco ist tot“, sagte Frau Müller mit brüchiger Stimme. Sie deutete auf den leeren
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