Shiva Moon
wüstenähnliches Land und dahinter der Strand. Wir halten an einem Tempel in Bushäuschenformat. Ein Heiliger namens Kapil Muni hat vor Jahr und Tag in ihm meditiert und Befreiung erlangt, jetzt lungern ein paar Sadhus und Rikschafahrer in seinem Schatten. Sie haben Lastrikschas, also keinen gepolsterten Sitz für ihre Fahrgäste, sondern nur ein quadratisches Brett, auf dem man auch Baumaterial oder Fische transportieren kann, wenn keine Pilger in der Nähe sind. Raja macht eine Rikschafahrt für die wenigen hundertMeter Weg klar, die noch zwischen uns und dem Ziel liegen, obwohl ich lieber zu Fuß gehen würde. Ich will keine Erschütterung mehr. Der Strand, auf den der Rikschafahrer im Schweiße seines Angesichts zuradelt, ist zwar nicht menschenleer, aber die vereinzelten Pilger, die sich auf ihm verlieren, unterstreichen den Eindruck, zur falschen Zeit am richtigen Ort zu sein, noch mehr, als wäre tatsächlich niemand da. Mitte Januar ist der richtige Termin. Nicht lange vor meinem Geburtstag. Dann kann sich jeder glücklich schätzen, der hier einen freien Quadratmeter findet. Dann kommt ganz Indien, um die Vereinigung von Big Mother Ganga mit dem Meer zu feiern. Nein, nicht ganz Indien. Es ist das Fest der Fünfzigjährigen, sagt Raja. Na also. Mein Alter, mein Platz.
Ich habe übrigens lange nicht von meinem Zahn geredet. Aber nur, weil ich ein Mann bin. Nicht weil der Zahn ruhig geblieben wäre. Der Achtzig-Kilometer-Schlagloch-Parcours hat seinen Job gemacht. Am Anfang war es nur ein unheilvolles Dräuen, dann nahm das Dräuen zu, inzwischen ist es echter Schmerz. Der Unterschied zwischen echten und unechten Zahnschmerzen zeigt sich daran, was man sonst noch so mit den Händen tut. Irgendwas? Oder klebt eine von ihnen nur noch an der Backe, um zu wärmen oder Trost zu spenden? Verzweifle nicht, lieber Zahn, die Hand ist mit dir. Sie denkt an dich.
In dieser Pose steige ich von dem Lastrikscha-Brett, in dieser Pose gehe ich weiter, denn über den Strand fahren die Rikschas nicht. Sie könnten es, der Sand ist feucht und fest, aber sie dürfen es nicht. Man darf auch nicht mit Schuhen über ihn gehen. An diesemStrand herrschen Tempelregeln. Naturheiliger Boden, nur barfuß zu betreten. Und Vorsicht wegen der Krabben. Ich schätze, eine Million winziger Krabben flitzen unter und neben uns durch ihre Strandtünnelchen. Jede hinterlässt eine Linie im Sand. Und nimmt man alle Krabbenlinien zusammen, sieht das ähnlich aus wie das Straßennetz einer x-beliebigen indischen Großstadt beim Landeanflug. Wenn ich hier ’ne Krabbe wäre, würde ich tagaus, tagein dem Gott der Krabben dafür danken, dass er mich über einen Strand flitzen lässt, auf dem Schuhe verboten sind. Wir flitzen nicht. Wir bummeln auf das Meer zu. Oder ist es der Ganges? «Es ist beides», sagt Raja.
An der Mündung geht es mir ähnlich wie an der Quelle. Ich weiß noch nicht, was ich mir wünschen werde, wenn ich in dem heiligen Wasser stehe. Das heißt, ich weiß es schon, aber der Wunsch, die Sache mit dem Zahn ungeschehen zu machen, beinhaltet ein Wunder. Und Wunder wünscht man sich nicht. Mehr habe ich ehrlich gesagt nicht im Kopf, während ich auf das Gangesmeer zuschlendere, aber kaum stehe ich drin, fällt’s mir ein. Ich habe keine Ahnung, ob der Wunsch, den ich plötzlich und wie aus dem Nichts formuliere, ein an dieser Stelle üblicher Wunsch ist. Möglich wär’s, weil er thematisch gut zu einer Mündung passt. Ich sehe auf meine Füße herunter, die von heiligen Wellen umspült werden, und wünsche mir vom Gangesmeer, dass sie endlich still stehen, dass sie nicht mehr weiterlaufen, weiter und immer weiter. Wie nun schon seit dreißig Jahren. Es geht nicht um das Ende dieser Reise durch Indien, es geht auch nicht um das Ende aller Reisen durch Indien, es geht vielmehr umdie grundsätzliche Einstellung meiner Reisetätigkeiten. Man darf sich das allerdings nicht so vorstellen wie im Film. Es rasen jetzt nicht im Zeitraffer die Bilder von einsamen Nächten in seelenlosen Hotelzimmern an meinem inneren Auge vorbei. Sie schwimmen auch nicht wie Traumsequenzen auf dem Wasser und werden langsam blasser. Die Betten und die Straßen. Die Tage und die Nächte. Die guten und die bösen Momente. Nein, so ist es nicht. Sie schwimmen nicht auf dem Wasser und wellen sich aus, um eins mit dem Meer zu werden. Sie haben auch keine Stimmen, die sich im Chor mit der Brandung vereinigen. Nichts von dem, was Hermann Hesse in «Siddhartha»
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