Shiva Moon
wie Paul Breitner, stand er wieder Gewehr bei Fuß am Taj Mahal. Der Boss hat ihn geliebt. Irgendwann ging Raja zurück nach Kalkutta und machte hier für den Boss eine Filiale auf. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere unterstanden ihm als Filialleiter drei Fahrer und sechzehn Angestellte. «Und jeden Abend trankst du weiter zwei, drei, vier, fünf Drinks?», frage ich. «Na klar. Ich kenne auch in Kalkutta jede Bar.» Aber das war es nicht, was schließlich zur Trennung des Winning teams führte. Der Boss wurde müde, der Boss war nicht mehr offen für neue Ideen. Und Raja hatte ständig welche. Raja träumte von einer großen Zukunft in der Tourismusindustrie. Er kündigte, um auf eigenen Beinen zu stehen. Gleichzeitig hörte er mit dem Trinken auf.
Warum erzählt er mir das? Ich habe nicht den Eindruck, dass er auf Mitleid aus ist. Im Gegenteil. Ich glaube, er will mir damit erklären, dass er mit sich im Reinen ist. Sein Travelling Office ist heute ein Raum in seiner kleinen Zweizimmerwohnung. Sein Partner ist sein Sohn. Raja bringt ihm alles bei, was er weiß. Wieder erinnert er mich an Al Pacino. Oder täusche ich mich, und Raja und Charlotte haben Recht damit, dass Robert De Niro solche Rollen besser spielt? Ist ja auch egal, nicht egal ist allerdings, dass Raja mir langsamzum Bruder wird. Gleiches Alter, gleich gestrickt. Und bald gibt’s Frühstück, Diamond Harbour ist in Sicht. Der größte Hafen der East India Company ist heute ein recht witzloser Ort. Aber das Meer ist plötzlich zu sehen. Nein, sagt Raja, das ist der Ganges.
Wir halten vor dem einzigen Hotel. Es ist sehr groß und absolut leer. Der einsame Mann an der Rezeption hat sich einen Schal wie ein Tuch um den Kopf gebunden. Er sieht missmutig aus. Wir sind auch die Einzigen in dem riesigen Hotelrestaurant. Wie riesig? Gewaltig riesig. Ich schätze hundert Tische. Ich setze mich an einen in Fensternähe, Raja verschwindet zur Toilette. Tatsächlich, es naht ein Ober. Er scheint etwas aus der Form zu sein. Er schlurft herbei. Auch seine Kleidung könnte sauberer sein. Ich frag ihn, ob sie Porridge führen. Das wird gekocht. Nein, sie haben nur Toast. Mit Käse? Nein. Mit Butter? Vielleicht, er ist sich nicht sicher. Also trockener Toast und Tee. Nein, Tee haben sie nicht. Nur Kaffee. Was ist das für ein Hotel? Ganz Indien trinkt Tee. Die East India Company hat ihn von China nach Indien verpflanzt und im Gegenzug Opium aus Indien ins Reich der Mitte gebracht. Die East India Company war ein böser Verein. Aber ihre Hotels hatten sie besser im Griff. Der Ober schlurft von dannen, ich genieße den Ausblick. Es gibt fast so viele Fenster wie Tische, und alle sind weit geöffnet. Wind kommt herein, die Sonne strahlt, und der Ganges wirkt nicht nur so breit, sondern auch so blau wie das Meer. Wie gesagt, er wirkt nur so, im Grunde fließt er am Diamond Harbour genauso grau vorbei wie an Varanasi. Aber ich komme einfach nicht runter von diesem Trip. Blau! Meer! Sonnenschein! Ich fühle mich heuteMorgen nun mal so. Und jetzt eine schöne Zigarette. Ich habe sie noch nicht einmal angezündet, da kommt der Mann von der Rezeption mit seiner Schal-Kopfbedeckung angerannt und beginnt zu schreien.
«NO SMOKING!»
Ich bin echt perplex. Riesensaal, komplett leer, alle Fenster offen. Und der schreit mich an, als hätte ich Feuer gelegt. Bürokratie ist das eine, Zickigkeit das andere. Außerdem gibt’s Menschenrechte. Nee, hier habe ich keine Lust mehr zu frühstücken. Raja ist von der Toilette zurück. Er hat es mitbekommen. Und was sagt er dazu? Unaufgefordert? «Ich denke, wir sollten woanders frühstücken.» Er ist wirklich der beste Führer, den ich finden konnte. Im Wagen kriegt er sich kaum ein. «Der Idiot. Ich hasse diese Leute. Statt sich zu freuen, dass er off season ein paar Rupien verdienen kann, schreit er dich an. Das gibt es nur in Indien.» Nein, da kann ich ihn beruhigen. Das gibt’s überall. Ich mache Raja also mit meiner Asshole/Nice-Guy-Theorie bekannt (oder ist es schon Philosophie?), und Raja liebt sie. Wenig später frühstücken wir bei Mr. Nice Guy und seiner Frau am Straßenrand. Ein kleines Restaurant, in dem nur ein schmaler, langer Tisch und ein paar Stühle stehen. Man kann aber auch vor dem Restaurant sitzen und dem Ehepaar beim Chapatibacken zusehen. Beide sind unter dreißig. Ich frage den Mann, ob er schon mal in Kalkutta war. Eine romantische Frage, gewiss, die auf Erinnerungen an eine schöne Tempelfrau namens
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