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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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beschreibt, passiert hier mit mir. Es ist einfach nur das Gefühl, das man immer hat, wenn sich ein Kreis schließt. Je größer der Kreis, desto mächtiger das Gefühl. Die kleine wie die große Reise ist zu Ende. Du hast genug gesehen. Nicht alles, aber es reicht, um zu begreifen, dass es nicht mehr nötig ist, weiterzugehen. Es gibt einen Globetrotter-Test im Internet. Man klickt alle Länder an, in denen man gewesen ist, und bekommt seine persönliche Weltkarte plus Quote. Meine war sechzig Prozent. Ich habe nicht die ganze Welt gesehen, aber mehr als die Hälfte. Und sehen heißt mitnehmen. Von den Latinos die Kunst des Tanzens (das beinhaltet Sex), von den Orientalen die Kunst des Träumens (das beinhaltet Geschichtenerzählen), von den Asiaten die Kunst des Atmens (das beinhaltet Kämpfen). Und das sind nur die Essentials. Die Liste der Details würde ellenlang. Die schwarze Magie der Zigeuner, die Ehre der Türken, die Partys der Libanesen, die Fröhlichkeit der Balinesen. Es reicht, das einmal gesehen zu haben. Zweimal ist keinSchaden, dreimal ist auch okay. Aber irgendwann wird Abenteuer zur Routine, Lernen zu Konsumieren und Reisen zur Flucht. Dann funktioniert es nicht mehr. Dann musst du dich nach einem Zuhause umschauen. Und wenn du trotzdem noch weiter von Wiederholung zu Wiederholung gehst, weil du dich dran gewöhnt hast, weil es dein System ist, weil du jedem kleinen oder großen Problem ausweichst, zu Land, zu Wasser und in der Luft, wenn es so weit mit dir gekommen ist, dann wirst du verstehen, was der Schriftsteller und Langeweiler Paul Bowles in seinen Memoiren schrieb: «Meine Füße sind meine größten Feinde.» Also bitte, bleibt stehen.
    Aber nicht in Indien.
    Und auf keinen Fall hier.
    Warum nicht?
    Vielleicht darum nicht: Raja will, bevor wir nach Kalkutta zurückfahren, noch schnell das einzige Hotel vor Ort inspizieren. Es steht direkt hinter dem Strand im Grünen. Von außen sieht es nicht schlecht aus, ich meine, die Mauern sind solide, aber drinnen verströmt es die gleiche gespensterhafte Atmosphäre wie das Hotel in Diamond Harbour. Zwei Gestalten ruhen im Foyer. Raja stellt sich ihnen als Direktor einer namhaften Travel Agency aus Kalkutta vor, der ihnen Gäste vermitteln könnte, wenn es ihm beliebt. Er möchte deshalb einen Blick in das beste Zimmer werfen. Ich auch. Daraufhin zeigen sie uns ihren «De-Luxe-Room». Als wir ihn betreten, verschlägt es uns den Atem. Mehr noch. Brechreiz. Fast muss ich mich übergeben. Es stinkt in diesem Zimmer, als würde hier was verwesen. Es ist der Teppich. Er frisst sich selbst auf. Ich geherückwärts wieder raus, eile die Treppen hinunter, eile durchs Foyer, und kaum bin ich draußen, probiere ich vorsichtig, ob das Atmen wieder geht. Bisschen später kommt Raja.
    «Wahnsinn!», sage ich.
    «Ja», sagt er.
    «Was ist mit denen los, Raja? Sie brauchen doch nur den Teppich rauszuschaffen und ein paar Wochen zu lüften. Das Zimmer selbst ist doch ganz schön.»
    «Das habe ich sie gerade auch gefragt. Und weißt du, was sie gesagt haben? Ohne den Teppich können sie den Raum nicht als ‹de Luxe› vermieten.»
    Wieder kann sich Raja kaum beruhigen. Die ganze Fahrt zurück zur Schiffsanlegestelle schimpft er über Ignoranz, Faulheit und Ausbildungsstand im indischen Tourismusgewerbe. Ich habe weiter Zahnschmerzen. Sie versauen mir die Freude über das glückliche Ende des Unternehmens. Ich bin gegen tausend innere Widerstände (und mit ein paar Umwegen, fast könnte man sie Schlenker nennen) dem Ganges von der Quelle bis zur Mündung gefolgt. Und es war sinnvoll, obwohl ich genau das die meiste Zeit bezweifelt habe. Ich habe keine Heiligen getroffen, wie das früher mal der Fall war, auch nicht den Tod oder die Liebe, nicht mal die kleine, aber unvergessliche Affäre traf ich am Wegesrand. Ich traf nur mich. Endlich. Das macht diese Reise zur besten meines Lebens. Aber ich kann mich nicht freuen. Ich kann mir nur noch die Backe halten.
    Wir erreichen die Anlegestelle für die Überfahrt zum Festland. Raja zahlt den Fahrer aus. Wieder ärgert er sich darüber, dass er hier beim letzten Mal einen zu hohen Preis akzeptiert hat. Wie viel zu hoch,will er mir nicht verraten. «Frag mich nicht», sagt er. Und fügt hinzu, dass auch ich «frag mich nicht» gesagt habe, als er von mir wissen wollte, was ich gestern für die Laufrikscha bezahlt habe. Ich nehme die Hand von der Backe und halte ihm fünf Finger hin. Er versteht nicht.
    «Fünfhundert

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