Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
Vom Netzwerk:
sehen. Dann sagte sie: »Lee, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe schon seit Monaten nicht mehr an diese Nacht gedacht. Wir waren einfach so wahnsinnig glücklich, Henry und ich. Alle waren so glücklich.«
    »Ich war nicht glücklich.«
    »Ich will nie wieder darüber reden, okay? Ich will nicht einmal mehr daran denken.«
    »Okay.«
    »Und ich will auch nicht, dass du daran denkst. Okay? Lee? Es ist passiert«, sagte sie, »und jetzt lassen wir das hinter uns.«
    »Beth?«
    Sie schaute zu mir hoch.
    Ich liebe dich , wollte ich sagen. »Nichts«, sagte ich. »Mach dir keine Gedanken mehr deswegen.«
    Und dann schwiegen wir. Es gab nur noch das stetige Verlagern unseres Gewichts von einem Fuß auf den anderen, bis hinein in die kleinsten Regungen unserer Körper: das Blut, das in unseren Adern zirkulierte, unsere sich weitenden Lungen, die Blitzlichter in den Nervenenden unserer Gehirne, unsere Haare, die vom winzigsten Luftstrom oder Atemhauch vibrierten, und das Blinzeln unserer traurigen Augen, die das Licht und die Dunkelheit in sich aufnahmen. Unter unseren Füßen federte fast unmerklich der Parkettboden des alten Palladium-Ballsaales. Ich musste an eine Nacht denken, die unendlich viele Jahre zurücklag, als Henry, Beth und ich noch Kinder waren und ein kleines Stoffzelt am Lake Wing aufgestellt hatten. Wie die Lichter unserer Taschenlampen durch die Dunkelheit getanzt waren. Der Klang unseres mitternächtlichen Lachens.
    Das Lied ging zu Ende und plötzlich stand ein alter Herr mit faltigem, zerknittertem Gesicht neben mir, der sich auf einen Stock stützte, mir mit dem Finger auf die Schulter tippte und dabei breit lächelte. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er, »aber Sie werden mir sicherlich verzeihen, wenn ich jetzt übernehme. Ich hab heutzutagenicht mehr so besonders viele Gelegenheiten, mit einer jungen Dame zu tanzen.« Und dann reichte er mir seinen Stock, als wäre ich ein Garderobenständer oder eine Hutablage. Beth küsste mich flüchtig auf die Wange und machte dann einen höflichen Knicks für den alten Mann. Sie fingen an zu tanzen, und ich ging wieder zur Bar zurück, wo ich mir ein Bier geben ließ und mich dann neben Ronny und Eddy stellte.
    »Diese alten Knacker, auf die muss man höllisch aufpassen«, sagte Eddy. »Die sind eiskalt.«
    Ich blieb bis zum Ende, bis die Lichter ausgingen und alle enttäuscht aufstöhnten und nach mehr verlangten: nach mehr Musik, mehr Bier, mehr Tanz, mehr Spaß. Beth und Henry winkten uns zu, als sie das Gebäude verließen. Draußen kletterten sie in ihre Limousine und fuhren zu einem Hotel in Eau Claire. Ich winkte zum Abschied, mit allen anderen zusammen, winkte, bis ich die roten Rücklichter nicht mehr sehen konnte.
    Und dann ging ich mit Ronny und seinen Eltern nach Hause, legte mich bei ihnen auf die Couch und schaute dem Deckenventilator zu, wie er sich drehte. Ich war nicht müde. Nicht im Geringsten.
    Um vier Uhr morgens stand ich vor dem Hotelzimmer, meine rechte Hand in die Luft erhoben, meine Fingerknöchel nur wenige Millimeter von der Tür entfernt – der Tür des Zimmers, in dem Beth und Henry schliefen, frisch verheiratet und sorglos glücklich. Die Flure des Hotels waren menschenleer und der Nachtportier starrte auf den Bildschirm eines winzigen tragbaren Fernsehers, den er sich hinter den Empfangstresen gestellt hatte. Das einzige Geräusch, das zu hören war, kam von der Eismaschine.
    Aber ich konnte es nicht. Konnte nicht klopfen. Weil zu viel Zeit vergangen war. Weil wir alle erwachsen waren. Weil es Grenzen gibt, die erwachsene Menschen nicht überschreiten. Und dies war eine davon – zwei Menschen, die ganz normal und ordentlich geheiratet hatten. Welchen Grund, welchen überhaupt nur denkbaren Grund hätte ich haben können, das jetzt zu zerstören? Und warum? Warum jetzt? Warum nicht vor einem Jahr? Oder zwei? Oder fünf? Cecil hatte recht: Sie hatte mein ganzes Leben lang nur fünf Meilen entfernt von mir gelebt und jetzt stand ich hier, in einem muffigen Hotelflur, während ein Guckloch mir in mein jämmerliches Gesicht starrte und ich die Faust erhoben hatte, um was genau zu verkünden? Liebe? Freundschaft?
    Ich dachte an die Zukunft, an meine Zukunft, mein Leben und ich konnte sehen, wie es sich vor mir ausbreitete, sah es so genau, wie ich die Landschaft um Little Wing kannte, die Hügel, Täler, Sumpflöcher, die ausgetrockneten Flussarme, die Felsrücken, Landstraßen, Maisfelder, Eisenbahnschienen und

Weitere Kostenlose Bücher