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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Gesundheitszustand dran: Krankheiten, Impfungen, ob ich Alkohol oder Drogen konsumierte, ob ich Zigaretten rauchte. Eine Stunde ging das so ... Da ich nicht mehr genau wusste, wann ich verurteilt worden war, erfand ich einfach irgendwelche Daten und bemühte mich, zumindest ungefähr den Monat zu treffen.
    Als wir fertig waren, versuchte ich ihr zu erklären, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse, ich hätte einen Antrag gestellt und sei für sechs Monate vom Wehrdienst befreit, weil ich eine Ausbildung abschließen und danach studieren wolle. Wenn alles nach Plan lief, fügte ich hinzu, würde ich in Bender eine Sportschule eröffnen.
    Sie hörte sich alles an, aber ohne mich anzusehen, unddas machte mich irgendwie nervös. Dann gab sie mir ein Blatt: Darauf stand, dass ich von diesem Augenblick an Eigentum der russischen Regierung und mein Leben gesetzlich geschützt sei.
    Ich verstand nicht, was das alles konkret bedeutete.
    »Das bedeutet folgendes: Wenn du versuchst zu fliehen, dich selbst zu verletzen oder dich umzubringen, wirst du wegen Beschädigung von Regierungseigentum belangt«, sagte sie mit eisiger Stimme.
    Plötzlich kam ich mir vor wie in einer Falle, alles um mich herum wirkte noch viel erdrückender und makaberer als vorher.
    »Hör zu«, platzte ich heraus, »ich pfeife auf euer Gesetz, ich bin ein Krimineller und damit basta. Wenn ich in den Knast muss, meinetwegen. Aber die Waffen deiner Scheißregierung werde ich nie und nimmer anfassen ...«
    Ich war wütend, und als ich anfing zu fluchen, fühlte ich mich sofort stark, stärker als diese absurde Situation. Ich war sicher, absolut sicher, dass ich den Mechanismus aufhalten konnte, der über mein Leben bestimmen sollte.
    »Wo zum Teufel ist hier ein General, oder wie bei euch die Verantwortlichen heißen? So einen will ich sprechen, du verstehst mich ja offenbar nicht!«, sagte ich drohend, aber sie sah mich nur mit dem gleichen teilnahmslosen Blick an wie vorher.
    »Wenn du den Oberst meinst, der ist da, aber ich glaube nicht, dass du bei dem was erreichst ... Versuch lieber, die Sache nicht noch schlimmer zu machen, ich kann dir nur raten, dich ruhig zu verhalten.«
    Ein guter Rat, wenn ich heute darüber nachdenke. Was sie da sagte, war wichtig, das weiß ich jetzt, sie wollte mir einen besseren Weg zeigen, aber damals war ich blind.
    Mir ging’s beschissen. Das gibt’s doch nicht, dachte ich, heute Morgen war ich noch ein freier Mensch, hatte Plänefür den Tag, für meine Zukunft, für den Rest meines Lebens, und jetzt sollte ich durch einen blöden Wisch meine Freiheit verlieren. Am liebsten hätte ich aufgeschrien und irgendjemanden angebrüllt, um meine Wut rauszulassen. Das brauchte ich jetzt einfach. Deshalb unterbrach ich sie und schrie sie an:
    »Herr Jesus Christus! Wenn ich mit einem sprechen will, dann mache ich das und basta! Wo zum Teufel ist der, der hier das Sagen hat, der General oder was auch immer?«
    Sie stand auf, sagte, ich solle mich beruhigen, mich auf die Bank setzen und eine Viertelstunde warten. Aber da war gar keine Bank. Verdammt noch mal, wo bin ich hier bloß gelandet, sind hier alle verrückt geworden, dachte ich, während ich im Dunkeln wartete.
    Plötzlich ging eine Tür auf, und ein Soldat mittleren Alters rief meinen Namen.
    »Mitkommen, Nicolai, der Oberst erwartet dich!«
    Ich schnellte hoch wie eine Feder und rannte auf ihn zu, um möglichst schnell aus diesem ekelhaften Loch rauszukommen.
    Wir gingen hinaus auf einen kleinen Platz, der von weiß gestrichenen Gebäuden gesäumt war, an denen Propagandaplakate und Schilder mit Exerzierübungen hingen. Wir überquerten den Platz und betraten einen lichtdurchfluteten Raum mit großen Fenstern und vielen Topfblumen. Zwischen den Pflanzen stand eine Bank und daneben ein großer Aschenbecher.
    »Warte hier vor der Tür, der Oberst wird dich aufrufen. Wenn du willst, kannst du rauchen.«
    Der Soldat war nett und sprach in freundschaftlichem Ton zu mir. Inzwischen hatte ich mich beruhigt und fühlte mich etwas sicherer: Jetzt käme ich endlich zu Wort, und es würde sich alles aufklären.
    »Vielen Dank, mein Herr, aber ich rauche nicht. Tausend Dank für Ihre Freundlichkeit.« Auch ich versuchte möglichst freundlich zu sein, um einen guten Eindruck zu machen.
    Der Soldat verabschiedete sich und ließ mich allein. Ich ließ mich auf der Bank nieder, schaute aus dem Fenster und lauschte den Geräuschen der Soldaten, die nun draußen auf dem Platz

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