Sibirische Erziehung
Großvater vor.
Der Mann blieb bis zum folgenden Morgen bei uns, trank und aß mit Großvater, und dabei sprachen sie über verschiedene Aspekte des kriminellen Lebens: über Ethik,die fehlende Erziehung der Jungen, darüber, wie sich im Lauf der Zeit die Verbrechergemeinschaften verändert hatten, und vor allem über den verheerenden Einfluss Europas und Amerikas auf den russischen Kriminellennachwuchs.
Ich war immer in ihrer Nähe, und wenn sie eine Flasche geleert hatten, lief ich in den Keller, um sie am Fass wieder aufzufüllen.
Als der Gast gegangen war, öffnete ich Bauchs Paket. Ich fand darin ein Messer, das Finka genannt wird, »finnisch«, die typische Waffe der Kriminellen in Sankt Petersburg und im russischen Nordwesten. Es war eine gebrauchte Waffe, sie hatte »gelebt«, wie man bei uns sagt, mit einem schönen Griff aus weißem Horn. Auf ein Blatt Papier hatte Bauch mit Bleistift geschrieben:
»Die menschliche Gerechtigkeit ist schrecklich und
falsch, Gott allein kann richten. Leider gibt es Fälle, in denen
wir verpflichtet sind, uns über seine Entscheidung
hinwegzusetzen.«
Freier Fall
M einen achtzehnten Geburtstag verbrachte ich fern der Heimat. Damals hatte ich gerade eine Ausbildung als Sportlehrer angefangen, weil ich mir ein neues Leben aufbauen wollte, außerhalb des kriminellen Milieus.
Es war eine merkwürdige Zeit für mich, ich las viel, lernte immer neue Leute kennen und begriff langsam, dass die kriminelle Laufbahn, die ich früher für gut und ehrbar gehalten hatte, etwas Extremes war, das von der Gesellschaft als »abwegig« abgelehnt wurde. Nur dass auch die Gesellschaft keinen besonders guten Eindruck auf mich machte, die Leute schienen mir blind und taub für die Probleme – die der anderen und sogar für die eigenen. Es blieb mir ein Rätsel, was diese »normale« Welt antrieb, wo man am Ende vereinzelt ist, wo die Leute nichts verbindet und keiner die Schönheit des Miteinander kennt. Die typisch russische Moral machte mich wütend, alle warteten nur darauf, dass sie den anderen verurteilen, sein Leben kritisieren konnten, aber selbst hatten sie nicht anderes im Sinn, als abends vor dem Fernseher zu sitzen, den Kühlschrank mit gutem, möglichst preiswertem Essen zu füllen, sich auf Familienfesten alle Mann vollaufen zu lassen und die Nachbarn zu beneiden oder am besten von ihnen beneidet zu werden. Dicke, möglichst ausländische Autos, haargenau die gleichen Klamotten, damit man so aussah wie alle anderen, am Samstagabend in die Dorfkneipe gehen und angeben, ein Dosenbier aus der Türkei trinken, großspurig verkünden, dass alles klar sei, dass »die Geschäfte« gut gingen, auch wenn man nur ein kleiner, ausgebeuteter Arbeiter war und sich nicht traute, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Für einen wie mich war dieser postsowjetischeKonsumismus der Russen verstörend. Die Leute erstickten fast in Markenwaschpulver und Zahnpasta, getrunken wurden nur noch ausländische Getränke, und die Frauen schmierten sich tonnenweise die französischen Crèmes ins Gesicht, für die tagtäglich im Fernsehen Reklame gemacht wurde, weil sie glaubten, dadurch würden sie wie die Models aus den Werbespots.
Ich war erschöpft und desorientiert, ich hatte keinen Schimmer, wie ich mich in diesem Leben auf eine anständige, sinnvolle Art selbst verwirklichen sollte.
Allerdings war ich meinem heimischen Sportverein immer treu geblieben. Ich machte Yoga, ich war dünn und gelenkig, die Übungen fielen mir leicht, und alle waren mit mir zufrieden. Einer meiner Trainer beim Ringen hatte mir geraten, Unterricht bei einem Yogalehrer in der Ukraine zu nehmen, der lange in Indien gewesen war. Also fuhr ich häufig zu Fortbildungskursen in die Ukraine und jedes Jahr mit einer Gruppe meines Sportvereins für sechs Wochen nach Indien.
Mit achtzehn stand ich kurz vor der Prüfung zum Yogalehrer, aber es gefiel mir nicht, wie die Dinge in meiner Schule abliefen, und ich stritt mich oft mit meinem Lehrer, der mir vorwarf, ich wäre zu aufsässig, und mich nur behielt, weil die anderen Jungs auf meiner Seite standen.
Dieser Lehrer beutete seine Schüler aus; so ließ er sie die Buchhaltung machen, zahlte so gut wie nichts dafür und rechtfertigte das Ganze dann mit äußerst merkwürdigen Vorträgen über die Philosophie des Yoga, was meines Erachtens reiner Opportunismus war. Das alles ertrug ich nur, weil ich diesen Abschluss brauchte, um an einer staatlichen Universität weiterstudieren zu
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