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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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können und dadurch zu vermeiden, dass ich zum Wehrdienst eingezogen wurde. Mein Traum war es, eine eigene Sportschulezu eröffnen und in meiner Heimatstadt Yoga zu unterrichten.
    Ein Traum, wie gesagt. Denn kurz vor der Prüfung passierte eine schreckliche Geschichte: Einer unserer Mitschüler starb an einem Infarkt.
    Manche, die Yoga machen, glauben die abstrusesten Dinge. Unser Lehrer erzählte immer von Menschen, die nach jahrelangem Training plötzlich fliegen konnten und sich in andere Lebewesen verwandelten. Ich hörte mir diesen Schwachsinn nie an, doch andere aus meiner Gruppe waren ganz wild darauf, darunter auch Sergej. Er hatte einen angeborenen Herzfehler und war in ärztlicher Behandlung. Unser Lehrer hatte ihm eingeredet, mit Hilfe der Übungen könne er sein Herzproblem lösen, und Sergej glaubte ihm. Immer wieder habe ich ihm zu erklären versucht, dass Yoga überhaupt nicht geeignet ist, schwere Krankheiten zu heilen, aber er wollte nicht auf mich hören und meinte immer, das sei alles eine Frage der Übung.
    Eines Tages fuhr Sergej zu einem großen Treffen der ungarischen Yogaschulen, und auf der Rückfahrt hatte er im Zug einen Herzinfarkt und starb. Es tat mir leid, aber mehr auch nicht, ich stand ihm nicht besonders nahe, und wir waren keine engen Freunde, aber für mich stand fest, dass unser Lehrer ihn auf dem Gewissen hatte.
    Schließlich sagte ich ihm die Meinung. Wir stritten uns, er warf mich von der Schule, und das bedeutete: Yogalehrerdiplom ade. Stattdessen stellten sie mir eine Teilnahmebestätigung aus, mit der ich in einigen Disziplinen öffentlich auftreten durfte. Eine echte Verarschung.
    Das alles geschah im Frühling, als ganz Transnistrien in Blüte stand und sich präsentierte wie eine duftende Braut in Weiß.
    Eine Weile tat ich nichts und dachte darüber nach, was passiert war, dann fuhr ich zu meinem Großvater Nikolajin die Taiga. Wir gingen auf die Jagd, bauten Reusen und Stellnetze für den Fischfang, gingen in die Sauna und redeten viel über das Leben.
    Mit vierundzwanzig hatte sich Großvater Nikolaj zurückgezogen, lebte seither allein im Wald und hatte eine ganz eigene Weisheit. Es tat mir gut, in dieser Zeit bei ihm zu sein.

    Als ich nach Transnistrien zurückkam, trommelte ich meine Freunde zusammen und organisierte ein großes Fest am Fluss, um meinen Geburtstag zu feiern, obwohl er schon einige Monate zurücklag. Wir beluden zehn Boote mit Angelzeug, Wein und dem Brot, das Mels Großmutter gebacken hatte, und machten uns stromaufwärts auf den Weg zu einer Stelle, die sich »Großer Tropfen« nannte.
    Bis zu dieser Stelle, die wegen ihrer Ruhe und Schönheit berühmt war, waren es von uns aus fünfzig Kilometer. Dort verbreiterte sich der Fluss und bildete viele kleine zusammenhängende Seen, in denen das Wasser warm war, weil es dort fast keine Strömung gab, außer wenn der Fluss Hochwasser führte, von März bis Mitte April, in der Zeit der Überschwemmungen. Deshalb gab es dort viele Fische, vor allem Welse, und die wollten wir fangen. Nachts fuhren wir mit den Booten hinaus, machten eine große Taschenlampe an und hielten sie ins Wasser: Dadurch wurden die Welse angelockt, und wenn sie an die Oberfläche kamen, erschlugen wir sie mit einem speziellen Holzhammer, der einen extra langen Stiel hatte. Einer hielt die Taschenlampe, während der andere mit dem Hammer auf der Lauer lag, aber man musste mucksmäuschenstill sein, denn die Welse waren schreckhaft, beim geringsten Geräusch oder der kleinsten Bewegung tauchten sie sofort ab, und bis sie wieder hochkamen, konnten leichtmehrere Stunden vergehen. Ich war mit Mel zusammen, kein anderer wollte mit ihm fischen, weil er im entscheidenden Moment einfach nicht still sein konnte.
    Auf jeden Fall musste man unbedingt verhindern, dass er den Part des Schlägers übernahm: Mel war zwar stark, konnte aber nicht zielen, und einmal hatte er den Wels verfehlt, dafür aber Teufel getroffen und ihm den Arm zerschmettert. Seither wollte niemand mehr mit Mel auf Welsjagd gehen. Alle wichen ihm aus, erfanden Ausreden und sagten:
    »Das geht nicht gegen dich, aber wir beide haben schon vorher abgemacht, dass wir zusammen fischen, such dir einen anderen ...«
    Da ihn sonst keiner haben wollte, nahm ich ihn gewöhnlich mit, auf eigene Gefahr. Außerdem war ich der einzige, von dem er sich im entscheidenden Moment etwas sagen ließ.

    Die Fahrt bis zum Großen Tropfen war schön, das Wetter war herrlich, das Wasser schien vom

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