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Sibirisches Roulette

Sibirisches Roulette

Titel: Sibirisches Roulette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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I. Teil
    Genau um sieben Uhr morgens explodierte die Sprengladung und riß einen großen Teil des Dammes in die taufeuchte Luft. Noch lag die Dämmerung gräulich-blau über dem Land, durchsetzt mit einem gelblichen Schimmer der Sonne, die aus den Sümpfen des Irtysch aufzutauchen schien. Ein Septembertag, der schon das Sterben der Natur ankündigte.
    Zufrieden sah Boris Jakowlowitsch Rudenko auf seine dicke, runde Taschenuhr mit dem zerbeulten Aluminiumgehäuse. Ein komischer Mensch, ein Pedant, wie man so sagt, war er in dieser Beziehung. An besonderen Tagen und bei besonders auserwählten Aktionen gab es bei ihm keine Minuten, nur die runde Zeit: Sieben Uhr … und kein Quentchen mehr. Und so ein besonderer Tag war heute: Der gesprengte Damm hing als geballte, schwarze Wolke unter dem faden Himmel, zerteilte sich jetzt und regnete im weiten Umkreis als Erdbröckchen oder Staub zurück auf das Land.
    »Das war's, ihr Lieben!« sagte Rudenko und drehte sich auf den Rücken. Die beiden Männer neben ihm, Samson Lukanowitsch Goldanski und Lew Andrejewitsch Masuk, taten es ihm nach. Sie lagen in einer flachen Senke hinter Weidenbüschen, trugen Mäntel aus dunkelblauem Plastik und kniehohe Gummistiefel und hatten schwarze Strickmützen tief in die Gesichter gezogen. »Ein Mückenstich nach dem anderen … auch das zermürbt. Ganz recht hat Vadim Viktorowitsch: Zeigen muß man, daß man da ist. Hier und dort und überall.«
    Er blickte wieder auf seine zerbeulte Uhr, küßte sie und steckte sie weg in die Rocktasche. So küßt ein gläubiger Christ sonst nur seine Handikone, und wer Rudenko beim Uhrküssen zusah, verwunderte sich natürlich. Wer wußte schon, daß diese Uhr mehr war als eine Ikone, mehr als ein mit einem Heiligen bemaltes Stück Holz, auch wenn es der Pope gesegnet hatte?
    1942 war's gewesen, als Rudenkos Vater nach einem kurzen Urlaub bei seinen Lieben in Lebedewka, nahe dem Ufer des Tobol, mit vielen Umarmungen und Küssen wieder Abschied nahm, um das Vaterland gegen die vorwärtsstürmenden Deutschen zu schützen. Damals war Boris Jakowlowitsch sechs Jahre alt, sah bewundernd zu seinem Vater empor, wie er in erdbrauner Uniform kräftig und stolz vor ihm stand, die Mutter immer wieder küßte – wohl weil er ahnte, daß dieser Urlaub ein neues Kind hervorbringen würde – und dann ihm, dem Sohn mit den großen blauen Augen, die feste Hand auf die Schulter legte und sagte: »Boris, mein Bürschchen, der einzige Mann bist du jetzt wieder im Haus. Paß auf Mütterchen gut auf!« Und er hatte ganz stolz geantwortet: »Geh und schlag die Deutschen tot, Väterchen. Hab keine Angst.«
    Nein, Angst hatte Jakow Akifowitsch nicht gehabt, fröhlich war er mit einem Lastwagen nach Tjumen gefahren und dort in den Zug gestiegen, der ihn zur Front brachte, aber zurückgekommen war er nicht. Was allein von ihm zurückkam nach Lebedewka, war seine Taschenuhr und ein Brief seines Kompaniekommandeurs, in dem er der Witwe Warwara Tigranowna schrieb:
    »Jakow Akifowitsch Rudenko, unser aller Freund, ein ungewöhnlich tapferer Mann und Held des Großen Vaterländischen Krieges, ist gestorben als ein großer Kämpfer. Bei einem siegreichen Sturm auf eine faschistische Stellung traf ihn eine Kugel mitten in die Brust. Beim Niederstürzen fiel er auf einen Stein, der seine Uhr verbeulte. Die Uhr schicke ich Ihnen, tapfere Genossin, hier zu. Wir werden Jakow Akifowitsch nie vergessen.«
    Kann man jetzt verstehen, warum für Boris Jakowlowitsch diese Uhr heiliger war als eine Ikone? Und mit der Uhr hatte er auch die präzise Pünktlichkeit seines Vaters geerbt, die sogar die Geburt seiner Schwester beeinflußte. Sie kam zehn Tage nach der Todesnachricht zur Welt, und Boris, das siebenjährige, lang aufgeschossene Bürschchen, war dabei, stand neben der stöhnenden, schreienden, schwitzenden, blutenden Mutter, hielt ihren Kopf fest, streichelte über ihre schweißnassen Augen, sah, wie seine Schwester Dusja aus dem aufgebrochenen Leib geholt wurde, und hörte Malika, die Hebamme und Schneiderin in einem war, stolz sagen: »Da hat ja Jakow was Gutes hingekriegt. Neun Pfund und zwanzig Gramm schwer. Jaja, so ein Soldatenleben! Gott hab ihn selig.«
    Da, als alles vorbei war und Dusja ihren ersten hellen Schrei ausstieß, hatte Boris auf die zerbeulte Uhr seines Vaters geblickt.
    Genau drei Uhr nachmittags. Keine Minute zu früh oder darüber. Auf den Punkt. Väterchen wäre darüber sehr froh gewesen. Und so blieb es

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