Sich lieben
Experten in Tokio erwartet wurde, vergleichbar dem von 1923 oder von 1995 im Kansai, und vielleicht sogar noch stärker, mit einer bislang noch unbekannten Zerstörungskraft, unvorstellbar angesichts der gegenwärtigen Urbanisierung Tokios, jenseits jeder Katastrophenphantasie. Und so diese unverbaubare Perspektive auf die Stadt genießend, begann ich, dieses so gefürchtete große Erdbeben herbeizusehnen, in einer Art grandioser Euphorie stieg in mir der Wunsch auf, daß es in diesem Augenblick vor mir sich vollziehe, in dieser Sekunde, und alles vor meinen Augen verschwinden ließe, Tokio in Asche und Ruinen lege und in tiefe Trauer stürze, die Stadt und meine Müdigkeit, die Zeit und meine toten Lieben vernichte.
Das Wasser des Schwimmbads lag bewegungslos da im Halbdämmer, lediglich die geschwungenen Chromgriffe der Treppen zum Becken schimmerten. Ich ging einige Schritte am Beckenrand entlang, zog mein T-Shirt aus und legte es gedankenverloren auf den Arm einer Liege. Ich knöpfte meine Hose auf und streifte sie längs meiner Oberschenkel ab, hob ein Bein, um sie an der Wade hinunterzuziehen, dann das andere, vorsichtig, um mich von dem Kleidungsstück zu befreien. Ich schlüpfte aus den Schlappen und ging, nun völlig nackt, zum Becken, unter meinen Fußsohlen spürte ich das Warme, Feuchte der kautschukartigen Runzeln des Fußbodenbelags. Ich setzte mich auf den Beckenrand, nackt im Halbdunkel, und nach einer Weile ließ ich mich ganz langsam senkrecht ins Becken gleiten – und der Wirbel aus Anspannung und Müdigkeit, der sich seit dem Abflug in Paris in mir angestaut hatte, schien sich beim Kontakt mit dem weichen Wasser im Nu auf meiner Haut zu lösen.
Langsam schwamm ich in der Dunkelheit des Schwimmbads, ruhigen Geistes, wechselte den Blick von der Oberfläche des Wassers, die durch meine langsamen stillen Schwimmzüge kaum verändert wurde, zum riesigen nächtlichen Himmel, der durch die vielen Öffnungen in der Glasfront, die dem Blick unbegrenzte Perspektiven boten, überall sichtbar war. Ich hatte das Gefühl, inmitten des Weltalls zu schwimmen, zwischen fast greifbaren Galaxien. Nackt in der Nacht des Weltalls, streckte ich sachte die Arme vor mir aus und glitt lautlos mit der Welle dahin, ohne Wirbel, wie in einem himmlischen Wasserlauf, inmitten jener Milchstraße, die in Asien Fluß des Himmels genannt wird. Von allen Seiten umspülte das Wasser, warm und schwer, ölig und sinnlich, meinen Körper. Ich ließ den Gedanken freien Lauf in meinem Kopf, schob sanft das Wasser vor mir beiseite, teilte die Woge in zwei einzelne Wellen und schaute ihnen nach, wie sie sich, silbernen Pailletten gleich, in wiegenden Bewegungen bis an den Beckenrand verlängerten. Schwerelos gleichsam schwamm ich im Himmel, atmete ruhig und ließ meine Gedanken in der Harmonie des Weltalls aufgehen. Ich hatte mich endlich von mir gelöst, meine Gedanken stiegen aus dem Wasser auf, das mich umgab, sie waren seine Emanation, hatten seine Evidenz und Flüssigkeit, sie flossen dahin wie die vergehende Zeit und strömten gegenstandslos in der Trunkenheit ihres bloßen Verströmens, der Grandiosität ihres Dahinfließens, wie bewußtloses Pulsieren des Blutes, rhythmisch, weich und regelmäßig, und ich dachte, aber das wäre schon zuviel gesagt, nein, ich dachte nicht, ich wurde jetzt eins mit der Unendlichkeit der Gedanken, ich selbst war die Bewegung des Denkens, ich war der Lauf der Zeit.
Ich verließ das Schwimmbad und ging in mein Zimmer zurück. Ich durchmaß den langen Flur des 16. Stockwerks, beiger Teppichboden, die Türen der Zimmer, eine neben der anderen, geschlossen, lediglich die Nummern aus vergoldetem Metall als Orientierungspunkte, alle fast gleich, 1614, 1615, 1616, 1617, 1618, 1619. Vor der Tür meines Zimmers angelangt und gerade im Begriff, einzutreten und zu Marie zurückzukehren, besann ich mich anders und machte kehrt, um zur Rezeption hinunterzufahren und dort das Fax abzuholen, das wir bekommen hatten. Ich trat aus dem Lift und durchquerte die Halle, ein wenig beschämt wegen meines Aufzugs, der sich vom Luxus des Hotels doch etwas abhob (ich trug ein schlichtes schwarzes zerknittertes und feuchtes T-Shirt, an den nackten Füßen Plastiksandalen). Es mußte etwas später als vier Uhr morgens sein, und das Hotel war wie ausgestorben, in der schweigenden und vor sich hinschlummernden riesigen Marmorhalle war keine Menschenseele. An der Rezeption stand lediglich ein Angestellter, der Nachtdienst
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