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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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hatte, schwarzgekleidet, mit dem Rücken zu mir, in die Lektüre eines Schriftstücks vertieft. Die anderen Tresen waren leer, das Pult, das als Sammelpunkt für die einschlägigen Dienste der Airport-Limousine diente, war verlassen, kein Portier in Sicht, kein Mensch auf der überdachten Außentreppe, die hinter der doppelten Reihe von gläsernen Schiebetüren in der Dunkelheit zu erahnen war. Ich ging zum Empfangstresen, und mit fester Stimme, die ein wenig mit der Lässigkeit meines Aufzugs kontrastierte, erklärte ich dem Angestellten auf englisch, daß ich in meinem Zimmer vom Eintreffen eines Faxes benachrichtigt worden sei. Room 1619, sagte ich ziemlich trocken, de Montalte, ergänzte ich.
    Marie hieß de Montalte, Marie de Montalte, Marie Madeleine Marguerite de Montalte (sie hätte ihre Kollektionen so signieren können, M.M.M.M., in sibyllinischer Huldigung an das Haus des Doktor Angus Killiecrankie). Marie war ihr Vorname, Marguerite der ihrer Großmutter, de Montalte der Name ihres Vaters (und Madeleine, weiß nicht, sie hatte ihn sich redlich verdient, kein Mensch sonst hatte ein solches lacrimales Talent, diese angeborene Begabung für Tränen). Als ich sie kennenlernte, ließ sie sich Marie de Montalte nennen, manchmal nur Montalte, ohne das Adelsprädikat, ihre Freunde und Mitarbeiter nannten sie Mamo, was ich zum Zeitpunkt ihrer ersten Ausstellung zeitgenössischer Kunst in MoMA umgewandelt hatte. Dann hatte ich MoMA fallenlassen, zugunsten von Marie, ganz einfach Marie (eben so mal).
    Der Angestellte an der Rezeption ließ auf sich warten ( just a moment, please, hatte er mir gesagt, bevor er in den Tiefen eines kleinen Nebenraums verschwand), und ich wartete nun an der Rezeption darauf, daß er wiederkam, mit nackten Füßen in feuchten Schlappen. Was war denn nun eigentlich los? Warum kam er nicht wieder? Fand er das Fax nicht mehr? Oder lag da ein Irrtum vor? Sollte uns gar keiner diese Nacht ein Fax geschickt haben? Aber warum hatte ich dann Hals über Kopf mitten in der Nacht das Zimmer verlassen? Und die Säure, fragte ich mich, wo befand sich in diesem Augenblick die kleine Flasche mit Salzsäure? Eine Menge angstmachender Gedanken bestürmten meinen Kopf und ließen mein Herz schneller schlagen. Der Angestellte kam zu mir zurück, unerschütterlich, und nach rascher Prüfung in einem in schwarzes Leder gebundenen Register wies er mit einer stilisierten Geste in die Halle, um mir zu sagen, daß bereits jemand vor mir das Fax geholt habe. Jemand? Ich drehte mich abrupt zur Halle hin um und bemerkte Marie nur wenige Meter entfernt. Marie war da. Zunächst sah ich nur ihre Beine, denn ihr Körper blieb durch eine Säule verdeckt, ihre übereinandergeschlagenen Beine, die ich sofort erkannte, an den Füßen trug sie Pantoffeln aus blaßrosa Leder, die zum Hotel gehören mußten und die sie mit einer distanzierten, raffinierten und ironischen Eleganz trug (der eine hing in prekärem Gleichgewicht gerade noch auf ihren Zehen, der andere war bereits zu Boden gefallen). Ich tat einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, ich wußte ja nicht, wie sie mich empfangen würde. Sie saß reglos auf einem der eleganten Ledersofas in der Halle, Kopf und Haare nach hinten geworfen, einen Arm über dem Boden schlenkernd, und trug – was mich sofort am meisten überraschte – eins ihrer Kleider aus eigener Kollektion, aus mit Sternen besetzter nachtblauer Seide, Straß und Satin, chinierter Wolle und Organza, das sie irgendwie übergestreift hatte, bevor sie das Zimmer verließ, ohne es an der Schulter zuzuhaken oder in der Taille zu schließen (ich hatte sie noch nie eins ihrer Kleider tragen sehen, das verhieß nichts Gutes). Ungeschminkt, die Haut sehr weiß unter den Kristalleuchtern, über den Augen eine Sonnenbrille, rauchte sie bedächtig eine Zigarette. Du bist da? sagte ich, mich ihr nähernd. Sie betrachtete mich mit einem Anflug von Amüsiertheit, und in ihrem Blick las ich eine Spur von verächtlicher Überheblichkeit, die mir zu sagen schien, daß man mir echt nichts verbergen könne (ja, in der Tat, sie war da), aber die auch sagen wollte, oder deutete ich dieses Lächeln falsch, wenn ich darin Gehässigkeit ausmachte, während es vielleicht nur ein klein wenig zärtlicher Spott war, daß sie mit meinem Durchblick nichts am Hut hatte, daß er ihr sogar herzlich schnuppe war, dieser mein Scheißdurchblick. Was sie jetzt von mir erwartete, das waren keine Intelligenzbeweise, noch weniger irgendwelche

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