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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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war der Ärmel des Ledermantels bis zum Oberarm hochgerutscht und strangulierte meine Achsel). Marie schmiegte sich an mich, den Kopf an meiner Brust, so daß wir nur noch einen eng ineinandergeschlungenen bizephalen Körper bildeten. In leichtem Trott stiegen wir die Treppen einer großen Metallüberführung hinunter, die gewissermaßen als städtische Schleuse fungierte, die die verschiedenen Stufen der Stadt abtrennte, und fanden uns auf einer tieferliegenden Ebene, in einer nicht weniger gespensterhaften, menschenleeren Avenue wieder, erhellt von einer Reihe Straßenlaternen, die in der Nacht eine gestrichelte Linie weißen Lichts zeichneten. In Sichtweite des Keio Plaza Hotels angekommen, dessen Eingang weiß und golden illuminiert war, bogen wir in eine düstere Straße ab, und nachdem wir allmählich das Shinjuku der großen Hotels und Bürohochhäuser hinter uns gelassen hatten, gelangten wir in ein belebteres Viertel, mit mehr Läden und kleinen Gaststätten, kleinen Höfen im Dunkeln, Lampions und Ideogrammen auf den Schildern, beleuchteten Kästen im Halbschatten. Manchmal kamen wir an den rosa und weißen Neonlampen eines Nachtlokals oder einer Animierbar vorbei, vor deren Eingang eine Traube von Menschen diskutierte, eine großgewachsene Rothaarige, bekleidet mit einer überweiten rosafarbenen Seglerjacke und Minirock, die Lippen bleich geschminkt, an ihrer Seite zwei ausgemergelte und miteinander tuschelnde Männer in Dreiteilern, und etwas weiter entfernt, im Schatten, untätig nahe der Mülltonne herumstehend, die magere Gestalt eines in Gedanken versunkenen kahlköpfigen alten Sandwich-Manns mit einem Stapel Prospekte in der Hand. Je weiter wir vordrangen, um so reger wurde das Viertel und um so stärker veränderte es sich, es gab immer mehr Bars und Neonlampen, Autos, die im Schneckentempo längs der menschenleeren Bürgersteige fuhren, Gerüche nach Suppe und Tako-yaki, Sex-Shops, Kellergeschosse, über die Anwerber und Rausschmeißer wachten, Kleinwüchsige in Zweireihern oder breitschultrige Typen mit Zopf, Holzschnittgesichtern und schwarzen wattierten Jacken. Niemand achtete sonderlich auf unser Aussehen, wir gingen auf in der Nacht und den Absonderlichkeiten eines jeden, waren nicht ausgefallener als andere. Marie mit ihrem Kleid aus eigener Kollektion für zwanzigtausend Dollar, ganz schlicht, nackter Rücken, zwei Bleistiftstriche, Rumpf aus schwarzer Seide und einem Bauchpropeller, das sie mit verblüffender Schlichtheit trug, Sonnenbrille auf der Nase und ihre rosa Schlappen vom Hotel an den Füßen, und ich selbst eingezwängt in einen Ledermantel, der mir viermal zu klein war und dessen Ärmel mir bis zur Armmitte reichten, die nackten Füße in feuchten und bereits verbogenen Schaumstoffsandalen, die Sohlen durchgeweicht, abgewetzt, braun geworden. Es wurde immer kälter auf der Straße, wenige Grade über Null, unsere Hände waren eisig, und aus unseren Mündern drang dampfender Atem, ich spürte Maries Körper an meiner Brust zittern, ihre Unterarme bedeckte sinnliche Gänsehaut. Ich hab Hunger, sagte sie. Ist dir kalt oder hast du Hunger? sagte ich. Hunger, sagte sie, mir ist kalt und ich hab Hunger (laß uns was essen gehen, sagte sie).
    Angezogen von seinen ins Rötliche spielenden Lampions und der Wärme, die im Innern zu herrschen schien, waren wir in ein kleines anspruchsloses Restaurant getreten, das Suppen zu jeder Tages- und Nachtzeit anbot, ein winziger übervoller Raum, eher schmuddelig, mit langen Holztischen, die fast alle besetzt waren. Eine Reihe schlichter Hocker stand längs des Tresens, auf denen vier Gestalten mit nach vorn gekrümmten Rücken, Schale und Stäbchen in den Händen, saßen und laut schmatzend ihre Nudeln in sich reinzogen, Udon oder Ramen, ich weiß nicht, ich habe sie nicht gefragt, was sie aßen (auch wenn sich Marie das gewünscht hätte, die mich unbefangen auf ihre Schalen hingewiesen hatte und dasselbe wie sie haben wollte). In einem angrenzenden Kabuff, geschützt durch einen kleinen Vorhang, war eine ältere Frau am Kochen, konzentriert und in ihre Aufgabe versunken briet sie irgend etwas in einem Wok, den sie schüttelte und dann mit einer jähen Bewegung über Töpfe auskippte, die auf Gaskochern brutzelten und im Speiseraum einen durchdringenden Geruch nach Soja und karamelisiertem Schwein verströmten. Wir hatten Suppen bestellt, die ich auf gut Glück auf der Karte ausgewählt hatte, indem ich für den älteren Mann in Holzpantinen, der

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