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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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schwarzlackierte Schale geschüttet hatte. Die Austern, ohne Schale, grau und glibberig, wie Jade und Perlmutt glitzernd, lagen zusammengesackt übereinander auf dem Schalenboden und ließen sich widerstandslos mit meinen unerfahrenen und glitschigen Stäbchen pflücken, um dann in meinem Mund zu landen, frisch, salzig, köstlich. Von Zeit zu Zeit legte ich die Stäbchen zur Seite und würzte meine Austern mit einem kleinen Schluck Aspirin. Bernard, mit dem Rücken zu mir, in einem Pulli mit Reißverschluß, bereitete auf einem alten Gaskocher die Koteletts zu, neben einer Spüle, über der eine Ablageplatte voller Toilettenartikel angebracht war, Zahnbürsten und Lotions, Spraydosen, Rasierschaum. Nachdem er die Koteletts gewendet hatte und die Pilze auf schwacher Flamme köcheln ließ, kam er zu mir zurück, um den Tisch zu decken, brachte Teller und Brot, und ich half ihm, sie auf dem Tisch zu verteilen, räumte eine angebrochene Flasche Oolong-Tee und alte Zeitungen weg, die ich neben mir auf die Stufen legte. Wir hatten uns an den Tisch gesetzt. Bernard hatte die Pfanne und die zwei Schalen mit Pilzen auf den Tisch gestellt und mit der Spitze seiner Gabel die Koteletts auf die Teller verteilt (für mich nur eins, ich hatte keinen großen Hunger). Er entkorkte die Flasche Médoc, goß jedem von uns maßvoll ein halbes Glas voll ein und fragte mich mit seiner weichen und flüsternden Stimme, ob ich das Erdbeben heute morgen gespürt hätte, scheint ja in Tokio ganz schön gebebt zu haben, sagte er und stellte die Flasche zurück auf den Tisch. Ich hörte auf zu essen, legte meine Gabel auf den Tisch. Ich fühlte mich nicht wohl. Die Erwähnung des Erdbebens hatte urplötzlich einen Schwall an wirren Gefühlen in mir hochschießen lassen, und obwohl in der Frage Bernards nichts Indiskretes lag – das war kaum eine Frage und nicht einmal persönlich gemeint –, spürte ich, wie sich meine Augen verschleierten, und ich entschuldigte mich für einen Augenblick, ich stand auf und ging in den Garten, Luft zu schnappen.
    Vielleicht, hätte Bernard mich gleich zu Anfang nach Neuigkeiten über Marie gefragt, auf der Straße, beim Wiedersehen oder jetzt, während des Abendessens, hätte ich ihm einfach gesagt, daß sie in Tokio zurückgehalten worden sei, und dabei wäre es wohl bei uns beiden geblieben, wir hätten nicht weiter drüber gesprochen (ich hätte sogar gezögert, mehr drüber zu sagen, wenn er mich zu dem Thema befragt hätte). Aber da er mich nach nichts fragte und Marie das einzige Thema war, das mir seit heute morgen im Kopf herumspukte, mußte ich unwillkürlich selbst davon anfangen, als ich wieder in die Küche trat. Und als ich Maries Namen mit jener heimlichen Wollust aussprach, die einen überfällt, wenn man jene erwähnt, die man öffentlich liebt (ich sprach von ihr auf die normalste Weise der Welt, in gleichgültigstem Ton, um einfach so zu sagen, daß sie in Tokio geblieben sei, weil sie eine Ausstellung vorbereite), spürte ich jenen leichten Schwindel, den man empfindet, wenn man sich freiwillig einer Gefahrensituation nähert, dabei wußte ich doch ganz genau, daß ich nichts riskierte, denn ich allein kannte das herzzerreißenden Ende unserer Beziehung.
    Ich fragte Bernard, ob ich ein Fax wegschicken dürfe, und Bernard legte sein Besteck auf den Tisch und verschwand im Salon, um mir ein Blatt Papier und etwas zu schreiben zu holen (in einer natürlichen, fließenden Bewegung zog er die Schuhe aus und an, mit einer Art unbewußter Gewandtheit der Bewegungen und Gesten). Er kam in die Küche zurück und hielt mir einen Block Papier hin, und einen Pinsel (aus Spaß, mit einem vorsichtigen Lächeln, falls ich mein Fax kalligraphisch gestalten wollte). Ich lächelte und nahm den Pinsel. Ja, warum nicht, sagte ich. Ich schob meinen Teller weg, griff zum Pinsel und begann, linkisch meine Botschaft in dicken Buchstaben aus schwarzer Tinte zu zeichnen. Nachdem ich fertig war, führte mich Bernard in den ersten Stock des Hauses, wo ich das Fax wegschicken konnte, wieder zogen wir unsere Schuhe aus, mir ging seine Geschmeidigkeit völlig ab, schwerfällig saß ich im Mantel auf den Stufen und band einen Schuh nach dem anderen auf, bevor ich dann eine Drehung machte, um mich aufzurichten und ihm in Socken auf den engen und rutschigen Stufen der Treppe zu folgen. Im ersten Stock ließ er mich in sein Arbeitszimmer treten, in dem ein warmes kupferfarbenes Licht herrschte. Das Telefon- und Faxgerät stand

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