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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Bürogebäude, die auf gleicher Höhe wie der Zug im regnerischen Grau des Tages vorüberzogen, in gemächlichem Tempo fuhren wir am Internationalen Forum vorbei, dessen konkave Krümmung sich genau der Schienenführung anschmiegte. Eine knisternde Stimme aus den Lautsprechern hieß auf japanisch und englisch die Fahrgäste willkommen, nannte die Bahnhöfe, an denen der Zug haltmachen würde, Nagoya, Kioto, Shin-Osaka, Shin-Kobe. Ich hatte keinen Nachbarn und neben mich Reisetasche und Mantel gelegt. In der mir nächsten Reihe mit drei Sitzen saß ein Mann allein in weißem Hemd und Krawatte und las in Socken die Zeitung. Allmählich hatte der Zug an Fahrt gewonnen, wir hatten das Zentrum Tokios verlassen und fuhren nun durch die Vororte, die sich im Dunst dahinzogen, an den Fensterscheiben schlängelten sich Regenrinnsale. Wir fuhren an Industriegebieten und Ansammlungen grauer Häuser vorbei, deren Dächer mit Antennen übersät waren. Ich schaute aus dem Wagenfenster, ohne an etwas zu denken, ein passiver Zeuge dieser Verdichtung von Raum und Zeit, die das Gefühl vermittelt, man wohne vom Zugfenster aus beim Vorbeigleiten der Landschaft dem Vergehen der Zeit bei.
    Ich hatte nicht zu Mittag gegessen, und nachdem ich zerstreut den jungen Frauen in hellgrüner Bluse zugeschaut hatte, die durch den Zug gingen und mit mechanischer und inhumaner Stimme Platten mit Speisen, Getränke oder Eis anboten, auf diese ganz besondere Art und Weise, das Produkt mit vorgestreckten Armen so anzubieten, als handele es sich um ein Programm, winzige Becher Vanilleeis oder Eis mit grünem Teegeschmack oder wie Geschenkpäckchen eingepackte Bentos, hielt ich eine junge Frau im Gang an und kaufte ihr eine Speiseplatte ab. Ich hatte aufs Geratewohl gewählt und war ein wenig enttäuscht, als ich das Geschenkpaket aufmachte und neben Eßstäbchen und Sojasoße in einem kleinen Plastikfisch mit lilliputanerhafter roter Verschlußkappe acht gleiche in Kirschbaumblättern eingewickelte Rechtecke Reis fand. Ich knabberte an einer der Rollen, ließ dann die Platte auf dem Tablett unangetastet stehen. Ich verschränkte die Arme über der Brust, schloß die Augen und versuchte zu schlafen. Ich döste regungslos auf meinem Sitz und fragte mich unschlüssig, was ich in Kioto machen würde.
    Sehr früh, gegen fünf Uhr nachmittags, brach die Nacht herein, mit einem Schlag, fast übergangslos. Aus dem erleuchteten Zug ließen sich die Landschaften nur noch undeutlich durch die Scheiben erkennen, riesige Reisfelder in der Dunkelheit, Bergprofile, manchmal in der Ferne die weißen Punkte einer Ortschaft. Als der Zug für den Halt in Nagoya die Geschwindigkeit drosselte, sah man unterhalb der Talbrücke, deren geradem Lauf er folgte, die Stadt, die erleuchteten Geschäfte und das marktschreierische Blinken der Neonschilder der Pachinkos, der Hotelfassaden und der Werbeplakate in der Dunkelheit. Der Zug war in den Bahnhof von Nagoya eingefahren. Hunderte von Mittelschülern in bis zum Kragen zugeknöpften schwarzen Uniformen warteten an den Bahnsteigen, Gymnasiastinnen in grauem Rock und blauer Bluse, mit roter Krawatte, dicken Schenkeln, langen Schals und weißen Kniestrümpfen, die in Gruppen zu dritt oder viert dem Ausgang zustrebten. Ich schaute aus dem Fenster, das Gesicht an der Scheibe, und plötzlich winkte mir eines der Mädchen beim Vorbeigehen mit der Hand zu. Ich wurde, völlig überrascht, jäh aus meiner Benommenheit gerissen und wollte schon die Hand heben und ihr antworten, doch sie war schon nicht mehr da, sie war verschwunden, und auf meinen Lippen blieb der Anflug eines Lächelns stehen, bereit aufzublühen und so ihr meine Dankbarkeit zu erweisen, doch auf dem Bahnsteig war niemand mehr, und mein Gesicht wurde wieder hart und undurchdringlich, abweisend, müde.
    Nach der Ankunft des Zugs in Kioto stieg ich auf dem Bahnsteig aus, schaute mich um, zögerte. Meine Reisetasche in der Hand, nahm ich die Rolltreppe und verließ den Bahnhof. Es war Nacht. Keine Ahnung, wo ich hingehen sollte. Ich zauderte vor dem Gang zum Tourismusbüro und marschierte weiter auf gut Glück den Grünstreifen entlang. Ich holte mein Adreßbuch aus der Manteltasche und vergewisserte mich, daß ich die Telefonnummer von Bernard hatte. Ich suchte ein Münztelefon und fand eins in einer Kabine mit wenig durchdachten Türen, sie gingen nach innen auf, ich zwängte mich durch die Flügeltüren, die ich hinter meinem Rükken wieder zusammenklappen ließ, legte mein

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