Sichelmond
standen. Sie stellte sich zwischen den Mann und die Frau und seufzte leise. Sie strich dem Mann über das Gesicht, so wie sie es in den vergangenen Tagen so oft gemacht hatte. Und sie hauchte der schlafenden Frau einen Kuss auf die Wange, was ebenfalls schon zu einem Ritual geworden war. Schließlich sagte sie leise: »Mama, Papa, ich brauche eure Hilfe.« Sie blickte sich um. »Ich brauche die Hilfe von euch allen. Von den Seelenschützern.« Dann senkte sie den Blick. »Und ich hoffe nur, dass mein Plan aufgeht.«
In diesem Moment öffnete sich die Zimmertür, und Mayers und Tallwitz kamen herein. Beide trugen dampfende Kaffeebecher in den Händen. Die Ermittler waren flüsternd in ein Gespräch vertieft. Allerdings schienen sie aufgebracht und nervös. Sie sprachen hektisch aufeinander ein, als Tallwitz plötzlich stockte und stehen blieb. Mayers verstummte mitten im Gespräch und blieb ebenfalls stehen. »Ist was?«
Tallwitz verharrte einen Moment, gerade so, als wollte er sich seiner Gefühle vergewissern.
Alle Aufregung und Nervosität waren verschwunden, als er fragte: »Tabitha, bist du hier?«
Tabitha lachte und bewunderte Tallwitz für sein Feingefühl. Es war bereits das zweite Mal, dass der Polizist ihre Anwesenheit bemerkte.
Sie rannte zu dem Schreibblock, der für sie auf der Fensterbank bereitlag. Sie griff sich den Stift, der sich daneben befand, und schrieb: »Ich bin hier. Und ich habe eine Bitte an Sie.«
Mayers und Tallwitz kamen zum Fenster gelaufen und lasen die Notiz.
»Eine Bitte«, wiederholte Mayers. »Natürlich, Tabitha«, sagte er. »Wir stehen tief in deiner Schuld. Nur durch deinen Hinweis auf dem Papier im Wasserwerk haben wir die verschwundenen Menschen finden können.«
Tabitha nickte. Es war das letzte Lebenszeichen, das sie von Rouven erhalten hatte. Als er ihr vor drei Tagen diese Begriffe in ihre Sinne gepflanzt hatte.
Diese Begriffe, die sie wie in Trance für die Polizisten aufgeschrieben hatte: Familien. Burgruine. Stollen.
Mayers und Tallwitz hatten sofort verstanden, dass Rouven ihnen das Versteck der verschwundenen Leute verraten hatte. Sie waren unmittelbar zum Stollen geeilt und hatten die Familien tatsächlich dort vorgefunden. Die Familien und auch den Ladenbesitzer, den Professor und die alte Frau. Sie alle waren am Leben. Unversehrt. Nur in diesem geheimnisvollen Schlaf gefangen, den sich bisher niemand erklären konnte.
»Du bist wohl noch rechtzeitig zu uns gekommen«, sagte Mayers. »Gerade haben wir erfahren, dass der Stollen unter der Burgruine eingestürzt ist. Die Ruine selbst ist zerstört. Doch vor allem: Keiner hier hätte überlebt.«
Tabitha war geschockt. Ihre Eltern und alle Seelenschützer waren nur knapp mit dem Leben davongekommen. Ob Rouven damit zu tun hatte? War die Ruine zusammengestürzt, weil Rouven sich im Kampf mit Jachael befand?
Sie wurde ungeduldig. »Wir müssen Rouven helfen«, schrieb sieauf das Blatt Papier. »Ich möchte die Menschen hier aus ihrem Schlaf wecken.«
Mayers zog die Augenbrauen hoch. »Du willst sie wecken? Wie denn?«
Der Stift wanderte über das Papier. »Wo befinden sich die gefundenen Bücher der Familien?«, schrieb sie auf den Block.
»Im Wagen«, antwortete Tallwitz hastig. »Ich kann sie schnell hierherholen.«
»Bitte«, schrieb Tabitha und hoffte nur, dass es nicht zu spät war.
Tallwitz rannte los. Es dauerte nur wenige Minuten, da kam er mit sechs winzigen Büchern in der Hand zurückgelaufen. Allesamt in goldenes Papier eingeschlagen.
»Bitte geben Sie jeder Familie das Buch, das Sie in deren Wohnung gefunden haben«, hatte Tabitha inzwischen schon auf den Block geschrieben.
Mayers und Tallwitz beeilten sich, dieser Bitte nachzukommen. In Windeseile sortierten sie die Bücher und legten sie jeweils auf das Bett der Frauen. Dann legten sie jeweils eine Hand der Frau und eine Hand ihres Mannes auf das Buch.
Tabitha verfolgte alles erwartungsvoll. Die Bücher waren die einzige Verbindung der Familien untereinander.
Sie hoffte darauf, dass eine besondere Kraft von den Büchern ausging. Eine Kraft, die es schaffen konnte, die Seelenschützer sich wieder ihrer selbst bewusst werden zu lassen. Es musste einfach sein.
Schließlich hatten Mayers und Tallwitz die Vorbereitungen abgeschlossen. Sie und Tabitha hielten gespannt den Atem an. Sie blickten auf die Menschen in ihren Betten. Ein jeder hatte eine Hand auf einem der Bücher. Immer paarweise ruhten ihre Hände auf den goldenen
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