Sichelmond
verspürt hatte: echte, wahre Gefühle.
Und ihm wurde klar, was zu tun war. Hier, an der Tür zu Jachaels Wutstürmen, im Angesicht der Menschen, die ihm wichtig waren und in Gedanken an die Seelen, die in seiner Halle auf ihn vertrauten, fasste Rouven einen Entschluss. Jachael hatte ihn um den entscheidenden Kampf gebeten. Und diesen sollte er auch bekommen.
Er machte sich bewusst, was Jachael ihm gesagt hatte. Er erinnerte sich noch einmal an Jachaels Worte, als er ihm erklärte, dass Rouvens Leben an Jachaels Leben gekoppelt war. Durch den Schwur, den er ihm gegenüber getan hatte. Was immer noch mit Jachael geschehen sollte in dieser Nacht, Rouven war dem gleichen Schicksal ausgeliefert.
Er richtete sich auf und trat einen Schritt zurück.
Die Seelenschützer hatten diese winzige Bewegung wahrgenommen. Sie verstummten und schauten fragend zu Rouven.
Der streckte seine Arme aus. »Bildet erneut die Kette«, sagte er. Und an Mayers und Tallwitz gerichtet bat Rouven: »Und Sie beide gehen bitte zur Tür und öffnen sie auf mein Zeichen hin.«
Tabitha stellte sich auf die Füße. »Was hast du vor, Rouven?«, fragte sie in einer Stimme, aus der all ihre Angst herauszuhören war.
»Wir werden dem ein Ende setzen«, antwortete Rouven, ohne sie anzusehen. Das hätte er nicht übers Herz gebracht. Zu groß war seine Angst, dass Tabitha sein Vorhaben erriet. Stattdessen brachte er hervor: »Vertrau mir!«
Tabitha zögerte. Doch dann kam sie zu den Seelenschützern und stellte sich unerkannt neben die Menschenkette. Nana baute sich an Tabithas Seite auf. Rouven freute sich, sie zu sehen. Es gab ihm Kraft, dass Tabitha sie hierher mitgebracht hatte.
Er bemerkte, wie sehr die beiden darunter litten, dass Eltern und Weggefährten sie nicht sehen konnten.
Rouven fragte sich noch, ob Nana und Tabitha wohl gespürt hatten, dass in dieser Nacht ihr Schicksal besiegelt worden war. Ob sie wussten, dass sie auf immer in ihren untoten Körpern gefangen waren. Doch diese Fragen schüttelte er ab. Er musste sich einzig auf das konzentrieren, was ihm jetzt bevorstand.
Die Menschenkette wich einige Schritte zurück. Wieder stellten sie sich im Halbkreis vor der Kapellentür auf. Mayers und Tallwitz brachten sich an der Tür in Position. Genau so, wie Rouven es gewünscht hatte. Doch sie blickten zweifelnd auf die Krähengestalt.
Schließlich baute sich Rouven zu voller Größe auf. Er ließ seinen Blick noch einmal über seine geliebten Seelenschützer schweifen, dann sah er nach vorn und nickte Mayers und Tallwitz zu.
Die beiden griffen nach der Tür und rissen sie auf.
Nur einen Augenblick später stand Jachael wieder in der Tür. In seiner Stiergestalt. Tief in Flammen stehend, die Nüstern weit geöffnet, alle Muskeln angespannt.
Ein ängstliches Raunen ging durch die Menschenkette, doch Rouven beruhigte seine Verbündeten. »Keine Angst, solange wir uns aneinander festhalten und uns gegenseitig Kraft geben, hat er keine Chance anzugreifen.«
»Was hast du vor?«, rief Tabitha mit zitternder Stimme Rouven zu.
Doch er gab keine Antwort. Er suchte mit seinem Blick den von Jachael. Der Stier stand in der Tür und scharrte mit den Hufen. Rouven ruckte kurz mit seinem Körper, und im gleichen Moment zuckten Jachaels Muskeln.
Die beiden Gegner waren hochkonzentriert und fest aufeinander fixiert.
Rouven atmete tief ein, und in diesem Moment startete er seinen Angriff. Er rannte auf die Kapelle zu.
»Nein!«, schrie Tabitha, doch es war zu spät. Jachael hatte diesen Moment abgewartet. Auch er konnte nun, da die Menschenkette unterbrochen war, aus der Kapelle stürmen. Wutschnaubend rannte auch er auf Rouven zu.
Rouven sprang ihm entgegen, seine Flügel aber nicht als Waffen vor sich haltend. Im Gegenteil. Er spannte die Flügel weit aus und bot Jachael seinen gesamten Körper als Angriffsfläche.
Jachael brüllte donnernd auf, dann rammte er vor der entsetzt aufschreienden Menschenmenge seine Hörner tief in Rouven hinein. Er warf den Kopf herum und riss Rouven in dieser Bewegung das Herz aus der Brust.
Die Seelenschützer schrien erneut auf.
Rouven stürzte zu Boden. Blutüberströmt. Und mit Blick auf Tabitha und die Seelenschützer an ihrer Seite tat er seinen letzten Atemzug.
D ie Halle der Seelen war lichtdurchflutet. Es war ein besonders milder, angenehmer Tag, und das schienen auch die Seelen in ihren winzigen Kojen zu spüren. Die Bewegungen hinter den dünnen roten Vorhängen glichen Freudentänzen. Es
Weitere Kostenlose Bücher