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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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Zeit, da noch Leben ihn erfüllte, und das Fleisch daran strömte einen leisen aromatischen Duft aus. Es war weder zusammengeschrumpft noch schwarz oder häßlich wie das Fleisch ägyptischer Mumien, sondern glatt und schön und, ausgenommen die leicht angebrannten Stellen, frisch wie am Tag des Todes – ein wahrer Triumph der Balsamierkunst!
    Armer kleiner Fuß! Ich legte ihn auf die Steinbank, auf welcher er so viele tausend Jahre geruht, und fragte mich, was für eine Schönheit er wohl durch den Prunk und das Gepränge einer längst versunkenen Kultur getragen haben mochte – zuerst als fröhliches Kind, dann als errötende Jungfrau und schließlich als vollerblühtes Weib. In welchen Hallen des Lebens war sein sanfter Schritt erklungen, mit welchem Mut war er den düsteren Weg des Todes hinabgeschritten? An wessen Seite war er im Dunkel der Nacht geschlichen, wenn der Negersklave auf dem Marmorboden schlief, wer hatte voll Ungeduld auf das Nahen seiner Schritte gehorcht? Schöner kleiner Fuß! Mag sein, daß er auf den stolzen Nacken eines Eroberers getreten war, der sich nur der Schönheit eines Weibes neigte, daß die Lippen von Edelleuten, ja von Königen sich auf seine juwelengeschmückte Weiße drückten.
    Ich hüllte dieses Relikt der Vergangenheit wieder in die Reste des alten Leinentuches, das offenbar ein Teil des Totengewandes jener Frau war, denn es war angebrannt, und legte ihn – welch seltsamer Gegensatz – in meinen Koffer. Dann humpelte ich, auf Billali gestützt, zu Leo. Er war arg zerschlagen und sein Zustand viel schlechter als der meine. Trotz seiner außerordentlichen Blasse und Schwäche infolge des Blutverlustes aus der Speerwunde an seiner Seite war er jedoch bester Dinge und bat um ein Frühstück. Job und Ustane legten ihn auf das Tuch einer Sänfte, deren Stangen sie entfernten, und trugen ihn mit Billalis Hilfe in den Schatten am Eingang der Höhle, aus der man übrigens unterdessen alle Spuren des nächtlichen Kampfes entfernt hatte. Dort frühstückten wir alle und verbrachten den Tag und auch den größten Teil der beiden folgenden Tage.
    Am dritten Morgen waren Job und ich wieder einigermaßen hergestellt. Da es auch Leo wesentlich besser ging, erfüllte ich Billalis immer wieder vorgebrachte Bitte und erklärte mich bereit, sogleich die Reise nach Kôr, wie der Wohnort der geheimnisvollen ›Sie‹ hieß, anzutreten, obwohl ich nachteilige Folgen für Leo fürchtete, dessen kaum verheilte Wunde durch die Bewegung wieder aufbrechen konnte. Hätte Billali nicht so ängstlich gedrängt, diesen Platz zu verlassen, und uns dadurch mit der Befürchtung erfüllt, es könnten uns, wenn wir noch länger blieben, neue Gefahren drohen, so hätte ich nicht eingewilligt.

10
     
    Betrachtungen
     
     
    Eine Stunde nachdem wir uns zum Aufbruch entschlossen hatten, wurden fünf Sänften, jede mit vier Trägern und zwei Ersatzmännern, zum Eingang der Höhle gebracht. Eine Schar von fünfzig bewaffneten Amahaggern bildete die Eskorte und trug das Gepäck. Drei der Sänften waren für uns, eine für Billali bestimmt, der uns, wie ich zu meiner Erleichterung erfuhr, begleiten wollte. Die fünfte war anscheinend für Ustane.
    »Kommt die Dame mit uns, mein Vater?« fragte ich Billali, der die Vorbereitungen beaufsichtigte. Achselzuckend erwiderte er:
    »Wenn sie will. In unserem Lande tun die Frauen, was ihnen beliebt. Wir verehren sie und lassen ihnen ihren Willen, denn ohne sie könnte die Welt nicht bestehen; sie sind der Quell des Lebens.«
    »Ah«, sagte ich, denn bisher war mir die Sache noch nie in diesem Licht erschienen.
    »Ja, wir verehren sie«, fuhr er fort, »daß heißt, bis zu einem gewissen Punkt – bis sie unerträglich werden. Das«, fügte er hinzu, »ist bei jeder zweiten Generation der Fall.«
    »Und was tut ihr dann?« fragte ich neugierig.
    »Dann«, erwiderte er mit leisem Lächeln, »raffen wir uns auf und töten die alten, um die jungen zu warnen und um ihnen zu zeigen, daß wir die Stärkeren sind. Auf diese Weise wurde vor drei Jahren meine arme Frau getötet. Es war sehr traurig, aber ehrlich gesagt, mein Sohn, mein Leben ist seither viel schöner, denn vor den jungen schützt mich ja mein Alter.«
    »Kurz gesagt«, antwortete ich, einen Politiker zitierend, dessen Weisheit das Dunkel der Amahagger noch nicht erhellt hat, »du hast mehr Freiheit und weniger Verantwortung.«
    Er schien über diesen Ausspruch zuerst ein wenig erstaunt, doch schließlich pflichtete er

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