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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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die Gelassenheit, mit der ich diese Ehre hinnahm, doch ich fand es nicht im mindesten verlockend, Bekanntschaft mit einer wilden, dunkelhäutigen Königin zu schließen, so mächtig und geheimnisvoll sie auch sein mochte, zumal ich mir große Sorgen um den lieben Leo machte. Als ich trotzdem aufstand, um ihm zu folgen, fiel mein Blick auf etwas Glänzendes, das am Boden lag, und ich hob es auf. Der Leser wird sich vielleicht entsinnen, daß in dem Kästchen außer der Tonscherbe auch ein Skarabäus lag, der mit sonderbaren Hieroglyphen bedeckt war, und daß diese Zeichen ›Suten se Ra‹ oder ›Königlicher Sohn der Sonne‹ bedeuteten.
    Diesen Skarabäus, der sehr klein war, hatte sich Leo in London in einen goldenen Siegelring fassen lassen; und dieser Ring war es, den ich jetzt vom Boden aufhob. Leo hatte ihn sich vermutlich in einem Fieberanfall vom Finger gerissen und fortgeworfen. Damit er nicht verlorenging, steckte ich ihn an meinen kleinen Finger und folgte dann Billali, während Job und Ustane bei Leo blieben.
    Wir gingen durch den Gang, durchquerten die große Vorhalle und schritten auf den entsprechenden Gang auf der anderen Seite zu, vor dem die Wächter wie zwei Statuen standen. Als wir uns näherten, neigten sie grüßend den Kopf und hoben dann ihre langen Speere und legten sie quer über die Stirn wie die Anführer der Soldaten, die uns abgeholt hatten, ihre Elfenbeinstäbe. Wir gingen zwischen ihnen hindurch und traten in einen Gang, welcher genau jenem glich, der zu unseren Kammern führte, nur daß dieser hell beleuchtet war. Nach wenigen Schritten traten uns vier Stumme – zwei Männer und zwei Frauen – entgegen, die sich tief verneigten und uns dann begleiteten, die Frauen vor uns und die Männer hinter uns gehend. So gingen wir an mehreren mit Vorhängen verhängten Türen vorbei, hinter denen, wie ich später herausfand, die Kammern lagen, in denen die stummen Diener der Herrscherin ›Sie‹ wohnten. Nach einigen weiteren Schritten stießen wir wiederum auf eine Türöffnung, welche das Ende des Ganges zu bilden schien. Auch hier standen zwei weiß oder eher gelb gekleidete Wächter, die sich ebenfalls tief verneigten, salutierten und uns durch schwere Vorhänge in einen großen Vorraum treten ließen, der etwa vierzig Fuß im Quadrat messen mochte. Darin saßen auf Kissen acht oder zehn Frauen, die meisten jung und hübsch und blondhaarig, und arbeiteten mit elfenbeinernen Nadeln an Gestellen, die wie Stickrahmen aussahen. Auch sie waren taubstumm. Auf der anderen Seite dieses großen, mit Lampen erhellten Raumes befand sich eine zweite Türöffnung, die mit schweren, orientalisch aussehenden Vorhängen verhängt war, die jenen vor den Türen unserer Kammer nicht im mindesten glichen. Davor standen, den Kopf tief geneigt und die Hände in tiefster Demut gekreuzt, zwei besonders hübsche stumme Mädchen. Als wir uns näherten, streckten beide einen Arm aus und schlugen die Vorhänge zurück. Daraufhin tat Billali etwas Sonderbares. Der ehrwürdige alte Herr warf sich auf Hände und Knie nieder und kroch in dieser unwürdigen Haltung, seinen langen weißen Bart über den Boden schleifend, in das dahinterliegende Gemach. Als ich ihm aufrecht folgte, blickte er sich um und rief:
    »Nieder, mein Sohn; nieder, mein Pavian; nieder auf Hände und Knie. Wir nähern uns der Herrscherin ›Sie‹, und wenn du keine Demut zeigst, wird sie dich ohne Zögern niederschlagen.«
    Erschrocken blieb ich stehen und wollte schon unwillkürlich die Knie beugen. Doch dann besann ich mich rechtzeitig. Ich war ein Engländer; warum, so fragte ich mich, sollte ich mich kriechend so einem wilden Weibe nähern, als wäre ich nicht nur dem Namen nach, sondern wirklich ein Affe? Ich konnte und durfte dies nicht tun, zumindest so lange nicht, bis ich völlig überzeugt war, daß mein Leben oder mein Wohlergehen davon abhing. Erniedrigte ich mich einmal dazu, auf den Knien zu kriechen, so würde ich es immer tun müssen, und dies wäre ein deutliches Eingeständnis meiner Unterlegenheit gewesen. Deshalb folgte ich Billali kühn in aufrechter Haltung und fand mich gleich darauf in einem anderen Gemach, das wesentlich kleiner als der Vorraum war. Seine Wände waren mit prächtigen Vorhängen bedeckt, wie ich später erfuhr, dem Werk der stummen Mädchen, die sie im Vorraum zu Streifen knüpften, welche später zusammengenäht wurden. Da und dort standen in dem Gemach Ruhebänke aus schönem schwarzen Ebenholz mit

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