Sie
hatten; nur standen statt einer zwei steinerne Bänke oder Betten darin. Auf den Bänken lagen Gestalten, gehüllt in gelbe Leinwand, auf der sich im Lauf der Jahrhunderte ein feiner Staub angesammelt hatte, doch längst nicht so viel, wie man erwartet hätte, denn in diesen tiefen Höhlen gab es kein zu Staub zerfallendes Material. Neben den Körpern auf den Steinbänken und auf dem Boden der Grabkammer standen zahlreiche bemalte Krüge, doch sah ich in diesen Höhlen nur sehr wenige Schmuckstücke oder Waffen.
»Hebe die Tücher auf, o Holly«, sagte Ayesha, und ich streckte meine Hand aus, zog sie jedoch gleich wieder zurück. Es erschien mir wie ein Sakrileg, und, um die Wahrheit zu sagen: der düstere Ernst des Ortes und die vor uns liegenden Gestalten erfüllten mich mit Furcht. Da zog sie, über meine Scheu lächelnd, selbst die Tücher fort, und zum Vorschein kamen weitere, noch feinere. Sie entfernte auch diese, und zum erstenmal seit aber Tausenden von Jahren schauten lebende Augen das Gesicht dieses Leichnams. Es war eine Frau; sie mochte etwa fünfunddreißig Jahre oder ein wenig jünger gewesen sein und sicherlich von großer Schönheit. Selbst jetzt noch waren ihre ruhigen, reinen Züge mit den zarten Augenbrauen und langen Wimpern, welche kleine Schatten auf die elfenbeinerne Haut warfen, überaus schön. Da lag sie, in ein weißes Gewand gehüllt, über das ihr blauschwarzes Haar herabfloß, in ihrem letzten langen Schlaf, und in ihrem Arm, das Gesicht an ihre Brust gepreßt, ruhte ein kleines Kind. So reizend und dabei so schrecklich war dieser Anblick, daß ich – ich gestehe es ohne Scham – meine Tränen kaum zurückzuhalten vermochte. Dieses Bild führte mich zurück durch die düstere Schlucht der Zeit in das glückliche Heim im toten kaiserlichen Kôr, in dem diese anmutige, schöne Frau lebte und starb und sterbend ihr Letztgeborenes mit sich ins Grab nahm.
Nun lagen Mutter und Kind vor uns, fahle Zeugen einer vergessenen menschlichen Geschichte, die mehr zu Herzen gingen als irgendeine geschriebene Darstellung ihres Lebens.
Ehrfürchtig breitete ich die Grabtücher wieder über sie, und seufzend über den unerforschlichen Willen des Schöpfers, der solche Blumen nur blühen läßt, auf daß im Grabe sie verwelken, wandte ich mich der Gestalt auf der anderen Steinbank zu und enthüllte sie behutsam. Es war ein Mann in fortgeschrittenen Jahren mit einem langen grauen Bart, gleichfalls in Weiß gekleidet – wahrscheinlich der Gatte jener Frau, der, nachdem er sie um viele Jahre überlebt, sich endlich an ihrer Seite zur letzten ewigen Ruhe gebettet hatte.
Wir verließen die Kammer und besichtigten noch andere. Es würde zu weit führen, die vielen Dinge, welche ich in ihnen sah, zu beschreiben. Jede hatte ihre Bewohner, denn die über fünfhundert Jahre, die zwischen der Fertigstellung der Höhle und dem Untergang des Volkes verstrichen waren, hatten offenbar ausgereicht, diese Katakomben, so zahllos sie waren, zu füllen, und alle Toten schienen seit dem Tage, an dem man sie darin bestattet hatte, nicht gestört worden zu sein.
Die Kunst, mit der man sie behandelt hatte, stand in so hoher Blüte, daß nahezu sämtliche Körper noch ebenso erhalten waren wie am Tage ihres Todes vor Tausenden von Jahren. Nichts hatte sie in der tiefen Stille dieses Felsens beschädigt; weder Hitze noch Kälte noch Feuchtigkeit hatte ihnen etwas anhaben können, und die Wirkung der aromatischen Stoffe, mit denen sie durchtränkt waren, schien ewig anzuhalten. Da und dort sahen wir jedoch auch eine Ausnahme, und in diesen Fällen zerfiel das Fleisch, so gesund es auch von außen aussah, bei der Berührung und enthüllte die Tatsache, daß die Gestalt nichts als ein Häufchen Staub war. Dies kam, wie Ayesha mir erklärte, daher, daß man diese Toten, sei es aus Eile oder anderen Gründen, lediglich in die konservierende Flüssigkeit * getaucht hatte, statt ihnen diese zu injizieren.
Ein Wort jedoch noch über das letzte Grab, das wir besichtigten, denn sein Inhalt rührte noch stärker ans Herz als der des ersten. Es hatte nur zwei Bewohner, die zusammen auf einer Bank lagen. Als ich die Grabtücher entfernte, fiel mein Blick auf einen jungen Mann und ein blühendes Mädchen, die sich in enger Umarmung aneinander schmiegten. Ihr Kopf ruhte auf seinem Arm, und seine Lippen waren an ihre Stirn gepreßt. Ich öffnete das leinene Gewand des Mannes und entdeckte über seinem Herzen eine Dolchwunde, und eine
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