Sie
könnten?«
»Wer kann das wissen«, sagte ich; »es scheint, die Welt ist sehr alt.«
»Ja, alt ist sie in der Tat. Seit Urzeiten sind Völker, reiche und starke Völker, in allen Künsten bewandert, immer wieder untergegangen und vergessen worden, so daß kein Andenken an sie blieb. Dies war nur eins von vielen; denn die Zeit verzehrt des Menschen Werke, es sei denn, er gräbt Höhlen, wie das Volk von Kôr, und selbst diese kann das Meer verschlingen oder ein Erdbeben verschütten. Wer weiß denn, was auf Erden schon gewesen ist oder sein wird? Es gibt nichts Neues unter der Sonne, wie einst schon der weise Hebräer schrieb. Und doch glaube ich nicht, daß dieses Volk gänzlich vernichtet wurde. Einige wenige blieben in den anderen Städten verschont, denn es gab viele Städte. Doch die Barbaren aus dem Süden, vielleicht gar mein eigenes Volk, die Araber, kamen über sie und freiten ihre Weiber, und so mag das heutige Volk der Amahagger ein Mischlingsgeschlecht der Söhne Kôrs sein, das in den Gräbern seiner Ahnen wohnt. * Doch sicher weiß ich's nicht – wer könnte es auch wissen? So weit in den finsteren Schoß der Zeit vermag ich nicht zu blicken. Auf jeden Fall waren sie ein großes Volk. Sie eroberten ein Land nach dem anderen, bis es keins mehr zu erobern gab, und dann lebten sie friedlich inmitten ihrer Felsenwände mit ihren Knechten und Mägden, ihren Sängern, Künstlern und Konkubinen und trieben Handel und zankten, zechten, schliefen und vergnügten sich, bis der Tag ihres Unterganges kam. Doch komm, ich will dir den tiefen Abgrund unter der Höhle zeigen, den die Inschrift erwähnt. Niemals wieder werden deine Augen ein solches Bild schauen.«
Ich folgte ihr durch einen Seitengang, der von der Haupthöhle abzweigte, und sodann eine lange Treppe hinab und durch einen unterirdischen Schacht, der etwa sechzig Fuß unter der Oberfläche des Felsens verlief und durch merkwürdige, nach oben führende Löcher belüftet wurde. Plötzlich endete der Gang, und Ayesha blieb stehen und befahl den Stummen, die Lampen hochzuhalten, worauf ich in der Tat, wie sie es vorhergesagt hatte, ein Bild sah, wie es sich mir wohl kaum je wieder bieten wird. Wir standen in einem ungeheuren Abgrund oder, besser gesagt, am Rande eines solchen, denn er reichte noch tief – wie tief, weiß ich nicht – hinab und war von einer niedrigen Felsmauer umschlossen. Soweit ich es beurteilen konnte, mochte dieser Abgrund so groß sein wie die Kuppel der St. Pauls-Kathedrale, und als die Stummen ihre Lampen in die Höhe hielten, sah ich, daß er ein einziges riesiges Beinhaus darstellte, angefüllt mit Tausenden menschlicher Skelette, welche zu einer ungeheuren bleichen Pyramide aufgehäuft waren, entstanden durch das Hinabgleiten der zuoberst liegenden Leichen, wenn von oben neue hineingeworfen wurden. Etwas Grausigeres als diesen wirren Haufen von Gebeinen eines ausgestorbenen Volkes kann ich mir nicht denken, und noch gräßlicher wurde das Bild dadurch, daß in dieser trockenen Luft eine beträchtliche Zahl von Leichen mit der Haut auf den Knochen ausgedörrt waren und uns nun in jeder nur denkbaren Stellung aus dem Berg weißer Knochen heraus anstarrten – Karikaturen auf das Menschenalter von grotesker Schrecklichkeit. In meinem Erstaunen stieß ich einen Schrei aus, und das vielfältige Echo meiner Stimme, welches in dem Gewölbe widerhallte, störte einen der Schädel auf dem Gipfel der Pyramide aus seiner vieltausendjährigen Ruhe auf.
Er sprang herab, hüpfte in lustigen Sätzen auf uns zu und riß dabei eine Lawine anderer Gebeine mit sich, so daß ihr Geklapper die ganze Höhle erfüllte und es fast aus – sah, als erhöben sich die Skelette, um uns zu begrüßen.
»Komm«, sagte ich, »ich habe genug gesehen. Sicher sind das die Leichen jener, die der großen Seuche zum Opfer fielen, nicht wahr?« fügte ich hinzu, als wir uns abwandten.
»Ja. Das Volk von Kôr hat seine Toten stets einbalsamiert, wie es die Ägypter taten, doch seine Kunst war größer als die der Ägypter, denn während die Ägypter die Eingeweide und das Gehirn entfernten, spritzten die Kôrer eine Flüssigkeit in die Adern, die jeden Körperteil erreichte. Doch halt – sieh es dir selbst an«, und sie blieb vor einer der Öffnungen in der Wand des Ganges, durch den wir schritten, stehen und bedeutete den Stummen, uns zu leuchten. Wir traten in eine kleine Kammer, die jener ähnelte, in welcher wir bei unserem ersten Aufenthalt geschlafen
Weitere Kostenlose Bücher