Sie
nun genug gesehen, mein fremder Gast, oder soll ich dir noch mehr von den Wundern dieser Gräber zeigen, die meine Palasthallen sind? Wenn du willst, so kann ich dich dorthin führen, wo Tisno, der mächtigste und tapferste König von Kôr, in dessen Tagen diese Höhlen vollendet wurden, in einem Prunk bestattet liegt, der aller Nichtigkeit zu spotten und den leeren Schatten der Vergangenheit Demut vor seiner in Stein verewigten Eitelkeit abzufordern scheint!«
»Ich habe genug gesehen, o Königin«, erwiderte ich. »Mein Herz ist überwältigt von der Allmacht des Todes. Die Lebenskraft ist schwach und könnte leicht zusammenbrechen unter dem Gefühl, mit dem mich der Anblick dessen, was meiner am Ende harrt, erfüllt. Führe mich fort von hier, o Ayesha!«
17
Eine Wendung
Wir folgten den Lampen der Stummen, die durch das Dunkel schwebten, und erreichten nach einigen Minuten eine Treppe, die uns in Ayeshas Vorzimmer führte, durch welches Billali tags zuvor auf allen vieren gekrochen war. Hier wollte ich mich von der Königin verabschieden, doch sie sagte:
»Nein, tritt nur ein, o Holly, denn wahrlich – ich unterhalte mich gern mit dir. Bedenke, Holly: zweitausend Jahre lang konnte ich mich mit niemandem unterhalten als mit Sklaven und meinen eigenen Gedanken, und obwohl all dieses Denken mich mit viel Weisheit erfüllt und mir viele Geheimnisse enthüllt hat, bin ich seiner doch überdrüssig und verabscheue meine eigene Gesellschaft, denn die Nahrung, welche die Erinnerung zu essen gibt, schmeckt bitter, und nur mit den Zähnen der Hoffnung vermag man sie zu beißen. Und mögen auch deine Gedanken grün und zart sein, wie es bei einem so jungen Mann nicht verwunderlich ist, so sind sie doch die eines denkenden Gehirns, und du erinnerst mich wahrhaftig an einige dieser alten Philosophen, mit denen ich in längst vergangenen Tagen in Athen und im arabischen Becca disputierte, denn deine Miene ist grämlich und du siehst verstaubt aus, als ob du all deine Tage damit zugebracht hättest, schlecht geschriebenes Griechisch zu lesen, und als seist du vom Schmutz alter Manuskripte schwarz gefärbt. So ziehe den Vorhang zurück und setze dich an meine Seite, und wir wollen Früchte essen und von angenehmen Dingen reden. Siehe, ich entschleiere mich dir wieder. Du selbst bist schuld daran, o Holly; ich habe dich ehrlich gewarnt – doch nun sollst du mich schön nennen, wie es sogar jene alten Philosophen zu tun pflegten. Schande über sie, daß sie so ihre Philosophie vergaßen!«
Und ohne weiteren Aufhebens erhob sie sich, schüttelte das weiße Gewand von sich und schlüpfte gleißend und prachtvoll daraus hervor wie eine schillernde Schlange, die ihre Haut abgestreift hat; dann richtete sie ihre wunderbaren Augen auf mich – tödlicher als die eines Basilisken –, durchdrang mich ganz und gar mit ihrer Schönheit, und ihr helles Lachen klang wie das Geläut von Silberglöckchen.
Eine neue Stimmung erfüllte sie, die ganz von ihr Besitz ergriff. Sie war nicht mehr von Qual und Haß zerwühlt wie in der Nacht, als sie ihre tote Rivalin beim Schein der springenden Flamme verfluchte, nicht mehr düster und prächtig wie ein lyrisches Gewand in den Behausungen der Toten. Nein, ihre Stimmung war jetzt die einer siegreichen Aphrodite. Leben – strahlendes, jubelndes, wundervolles Leben – schien sie jetzt zu verströmen. Leise lachte und seufzte sie, und ihre Augen funkelten. Sie schüttelte ihre schweren Locken, und ihr Duft füllte den Raum; sie stampfte mit ihrem kleinen sandalenbekleideten Fuß auf den Boden und summte ein altes griechisches Hochzeitslied. All ihre Majestät war verschwunden, oder sie war verborgen und flackerte nur leise aus ihren lachenden Augen wie Blitze bei hellem Sonnenschein. Den Schrecken der springenden Flamme, die kalte Macht der Richterin, deren Urteil eben vollstreckt wurde, und die fahle Traurigkeit der Gräber hatte sie von sich, hinter sich geworfen wie das weiße Gewand, das sie getragen, und nun stand sie da wie die Verkörperung lieblicher, verlockender Weiblichkeit, vollkommener – und in gewisser Weise durchgeistigter – als je ein Weib zuvor.
»Komm, mein Holly, setze dich dorthin, wo du mich sehen kannst. Erinnere dich, es war dein eigener Wunsch – ich sage noch einmal, gib nicht mir die Schuld, wenn du den Rest deines kurzen Lebens mit einer solchen Qual im Herzen zubringst, daß du wünschen wirst, lieber gestorben zu sein, als deinen neugierigen Blick
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