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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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in dem Ayesha zu Gericht gesessen hatte, befand sich eine kurze Inschrift in den bereits erwähnten merkwürdigen Buchstaben, die eine starke Ähnlichkeit mit chinesischen Schriftzeichen hatten. Langsam und stockend las Ayesha mir diese Inschrift vor und übersetzte sie sodann. Sie lautete wie folgt:
    »Im Jahre viertausendzweihundertneunundfünfzig nach Gründung der Hauptstadt des kaiserlichen Kôr wurde diese Höhle (oder Begräbnisstätte) von Tisno, dem König von Kôr, vollendet, nachdem das Volk und seine Sklaven drei Menschenalter gearbeitet hatten, ein Grab für seine Bürger von Rang zu schaffen, die später kommen werden. Möge der Segen des Himmels über den Himmeln auf ihrem Werke ruhen und den Schlaf Tisnos, des mächtigen Herrschers, dessen Bildnis hier verewigt ist, zu einem gesunden und glücklichen Schlaf machen bis zum Tage des Erwachens * , und ebenso den Schlaf seiner Diener und seiner Nachkommen, die dereinst ihre Häupter ebenso tief in den Staub legen werden.«
    »Wie du siehst, o Holly«, sagte sie, »gründete dieses Volk die Stadt, deren Ruinen heute die Ebene bedecken, viertausend Jahre vor Fertigstellung dieser Höhle. Und dennoch war vor zweitausend Jahren, als ich sie zum erstenmal erblickte, alles schon so wie jetzt. Wie alt muß diese Stadt demnach sein! Nun folge mir, und ich will dir zeigen, wie dieses Volk untergegangen ist, als die Zeit für seinen Untergang kam«, und sie führte mich zur Mitte der Höhle und blieb vor einem runden Felsblock stehen, der in ein großes Loch im Boden eingelassen war. »Rate, was das ist«, sagte sie.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich, worauf sie zur linken Seite der Höhle ging und den stummen Mädchen befahl, ihre Lampen hochzuhalten. An der Wand befand sich eine Inschrift in roter Farbe, deren Buchstaben jenen unter dem Bildnis Tisnos, des Königs von Kôr, glichen. Sie lautete:
    »Ich, Junis, ein Priester des Großen Tempels von Kôr, schreibe dies auf den Fels der Begräbnisstätte im Jahre viertausendhundertunddrei nach der Gründung von Kôr. Kôr ist gefallen! Nie mehr werden die Mächtigen in seinen Hallen Feste feiern, nie mehr wird es die Welt regieren, nie mehr werden seine Schiffe die Meere befahren und mit der Welt Handel treiben. Kôr ist gefallen! All seine mächtigen Werke und all die Städte und Häfen und Kanäle, die es baute, sind für den Wolf und die Eule und den wilden Schwan und die Barbaren, die nach ihm kommen. Vor fünfundzwanzig Monden senkte sich eine Wolke auf Kôr und die hundert Städte von Kôr nieder, und aus der Wolke kam eine Pest und raffte das Volk hinweg, Alte wie Junge, einen um den anderen, und schonte keinen. Einer wie der andere wurde schwarz und starb – die Jungen und die Alten, die Reichen wie die Armen, Männer wie Weiber, Prinzen wie Sklaven. Die Pest wütete bei Tag und Nacht, und wer ihr entkam, erlag dem Hunger. Der Toten waren so viele, daß ihre Körper nicht mehr nach altem Brauch erhalten werden konnten, und so warf man sie durch das Loch im Boden dieser Höhle hinunter in den tiefen Abgrund. Dann endlich konnte sich ein Rest dieses großen Volkes, dieses Lichtes der ganzen Welt, an die Küste retten, ein Schiff besteigen und nach Norden segeln, und nun bin ich, der Priester Junis, der dieses schreibt, der letzte, der von dieser großen Stadt noch lebt, und ich weiß nicht, ob auch in den anderen großen Städten noch Menschen am Leben sind. Ich schreibe dies in tiefem Kummer, ehe auch ich sterbe. Das kaiserliche Kôr ist nicht mehr, und niemand ist mehr, der in seinen Tempeln betet, all seine Paläste stehen leer, und all seine Fürsten und Krieger und Händler und schönen Frauen sind vom Antlitz der Erde verschwunden.«
    Ich stieß einen Seufzer des Erstaunens aus – die in diesen unbeholfenen Worten ausgedrückte Verzweiflung war überwältigend, der Gedanke an diesen Mann, der als einziger von einem mächtigen Volke übriggeblieben war und dessen Schicksal aufgezeichnet hatte, entsetzlich. Was muß der alte Mann empfunden haben, als er in grauenhafter Einsamkeit beim schwachen Schein einer Lampe in wenigen kurzen Zeilen die Geschichte des Untergangs seines Volkes an die Wand der Höhle schrieb? Was für ein Thema für einen Moralisten, für einen Maler, ja für jeden, der denken kann!
    »Kommt dir nicht der Gedanke, o Holly«, sagte Ayesha, ihre Hand auf meine Schulter legend, »daß diese Männer, die nordwärts segelten, die Väter der ersten Ägypter gewesen sein

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