Sie kam, sah und liebte
mehr den geringsten Reiz für ihn. Sie war anstrengend und launisch, aber sie war seine Schwester. Er gewöhnte sich allmählich an ihre Anwesenheit, und der Gedanke an ein Internat erschien ihm längst nicht mehr so verlockend.
Er folgte ihr in ihr Zimmer und lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen. Sie lag auf dem Bett und starrte an die Decke, die Arme ausgebreitet wie ein Märtyrer am Kreuz.
»Möchtest du wirklich ins Internat?«, fragte er.
»Ich weiß doch, dass du mich loshaben willst.«
»Das habe ich nie gesagt.« Dieses Gespräch führten sie nicht zum ersten Mal. »Und es stimmt auch nicht.«
»Du willst mich loswerden«, schluchzte sie. »Dann gehe ich eben ins Internat.«
Er wusste, was sie jetzt hören wollte und was er sagen musste. Sowohl um seiner selbst als auch um ihretwillen. Lange genug war er unentschlossen gewesen. »Zu spät.« Er verschränkte die Arme über der Brust. »Du gehst nirgendwohin. Du wohnst hier bei mir. Wenn dir das nicht passt, hast du eben Pech gehabt.«
Da sah sie ihn schließlich doch an. »Auch, wenn ich gern ins Internat will?«
»Ja«, sagte er und staunte, wie überzeugt er selbst von dieser Antwort war. »Auch wenn du wegwillst, du sitzt hier fest. Du bist meine Schwester, und ich will, dass du bei mir wohnst.« Er zuckte mit den Schultern. »Du gehst mir ganz schön auf den Sack, aber ich mag es, wenn du bei mir bist und mich nervst.«
Sie blieb eine Minute still, dann flüsterte sie: »Gut, ich bleibe. «
»Na, dann ist’s ja gut.« Er stieß sich vom Türrahmen ab und ging zurück ins Wohnzimmer. Er blickte aus den hohen Fenstern hinaus über die Bucht. Das Verhältnis zu seiner Schwester war nicht das beste. Die Art, wie sie ihr Zusammenleben gestalteten, war nicht eben ideal; er war genauso oft unterwegs, wie er zu Hause war. Aber er wollte sie kennen lernen, bevor sie aufs College ging und erwachsen wurde.
Er hätte sie in den vergangenen sechzehn Jahren öfter sehen müssen. Es wäre ihm durchaus möglich gewesen. Ausreden gab es nicht. Jedenfalls keine guten. Er war so sehr mit seinem eigenen Leben beschäftigt gewesen, dass er nur höchst selten an Marie gedacht hatte. Und deshalb beschämte ihn der Gedanke daran, wie oft er in L. A. gewesen war und nicht einmal ernsthaft versucht hatte, sie zu sehen. Sie kennen zu lernen. Ihm war schon lange klar, dass ihn das als einen egoistischen Mistkerl auswies. Im Grunde hatte er jedoch nicht gedacht, dass etwas daran auszusetzen wäre, wenn man egoistisch war – bis zu diesem Zeitpunkt.
Er hörte ihre leisen Schritte und drehte sich um. Die Wangen noch nass von Tränen und mit Spuren von verlaufener Wimperntusche im Gesicht, schlang sie die Arme um ihn und schmiegte den Kopf an seine Brust. »Ich bin gern bei dir und nerve dich.«
»Schön.« Er schloss sie fest in die Arme. »Ich weiß, dass ich dir nie die Mutter oder den Vater ersetzen kann, aber ich will doch versuchen, dich glücklich zu machen.«
»Heute war ich sehr glücklich.«
»Trotzdem ziehst du diesen BH nicht an.«
Sie schwieg eine Weile und stieß dann einen resignierten Seufzer aus. »Gut.«
Lange blickten beide zusammen zum Fenster hinaus. Sie sprachen über Maries Mutter, und sie erklärte Luc, warum sie die getrockneten Blumen auf ihrer Kommode behielt. Er glaubte zu verstehen, obwohl er die Sache für ziemlich morbide hielt. Sie erzählte ihm, dass sie auch mit Jane darüber gesprochen hatte und dass Jane gesagt hatte, eines Tages, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, würde sie die Blumen wegtun.
Jane. Was sollte er in Bezug auf Jane denn tun? Er wollte doch nichts weiter als ein friedliches Leben. Das war alles, aber seit er Jane kennen gelernt hatte, kannte er keinen Frieden mehr. Nein, das entsprach nicht der Wahrheit. Während dieser wenigen Wochen mit ihr zusammen war sein Leben schöner gewesen als je zuvor. Bei ihr zu sein war, als wäre er zum ersten Mal, seit er nach Seattle gezogen war, richtig zu Hause. Doch es war nur eine Illusion gewesen.
Sie hatte gesagt, dass sie ihn liebte. Er war klug genug zu wissen, dass er es nicht glauben sollte, doch tief in ihm war eine Stimme, die sich nicht ignorieren ließ und die ihm sagte, dass er sich wünschte, es wäre die Wahrheit, keine Lüge. Er war ein Esel, er hatte einen Vogel. Morgen Abend würde er sie zum ersten Mal seit einer Woche wiedersehen, doch er hoffte, dass der Schmerz nach dem Brennen wie immer taub werden würde, dass er ihn dann nicht mehr
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