'Sie können aber gut Deutsch'
Geschichte dienen sollten: die Eremitage,
die Newa bei Nacht, der Palast von Peterhof … Ich nannte die Geschichte Meine weißen Nächte .
Meine weißen Nächte , so heißt auch mein erster Roman, der 2004 erschien und in dem ich zum Teil auch diese Erfahrungen beschrieben habe. Während des Schreibprozesses machte ich mir wie wohl jeder Autor Sorgen um meine schriftstellerischen Fähigkeiten, nicht aber um mein Deutsch. Irgendwann zwischen den ersten und den zweiten Weißen Nächten war Deutsch zu meiner Sprache geworden.
Kurz vor Veröffentlichung meines ersten Romans erstellte ich eine Liste, auf die ich die Namen meiner Familie und meiner Freunde schrieb, manche wieder verwarf, um sie durch andere zu ersetzen. Stolz verteilte ich an sie die Freiexemplare meines Buchs, die man als Autor von seinem Verlag gestellt bekommt. Undurchgestrichen, weil unangefochten blieb auf dieser Liste der Name meines damaligen Grundschulklassenlehrers, dessen Adresse ich im Telefonbuch fand.
Ich hatte ihn nie vergessen, weil er auf mich zugegangen war. Seine Schritte waren vielleicht nicht gerade innovativ, vielleicht kaum merklich gewesen. Für mich bedeuteten sie die Welt. Für mich waren sie ein Zeichen, dass ich erwünscht war in diesem Land. Eine Frage hier und da. Ein aufmunterndes Lächeln zwischendrin. Anerkennung für jeden noch so kleinen Fortschritt, für jedes »meinetwegen«, für jede Wortmeldung, für jeden Deutschfehler weniger. Vor allem aber ein ehrliches Interesse an mir, an der kleinen, elfjährigen Person aus Russland. Kein verallgemeinertes Interesse an der Integration einer »ausländischen Mitbürgerin« (das vorangestellte kurze »Mit« kam sogar mir mit meinen mangelnden Deutschkenntnissen als Abstufung, als Ausgrenzung vor). Kein ausgeprägtes Helfersyndrom, keine mitleidige Hilfe von oben herab, die in mir das Gefühl der Schuldigkeit und einer nicht wiedergutzumachenden
Dankbarkeit hinterließ, die mich erdrückte. Keine Erwartung, ich möge doch bitte möglichst schnell deutsch werden. Sondern ein Interesse und eine Einladung, unaufdringlich und deshalb so herzlich. Die einfachste Bitte von allen, nämlich die, meine Geschichte zu erzählen.
Plötzlich war ich nicht mehr das problematische Ausländerkind mit zu schlechten Deutschkenntnissen, ich war ein kleiner Mensch, dessen Geschichte interessierte. Ich bemühte mich gerne, diese zu erzählen, in einem möglichst fehlerfreien Deutsch.
Das mag auf den ersten Blick zu einfach klingen. Aber so falsch kann es nicht gewesen sein, denn heute werde ich als Integrationsbeispiel auf Podien und Diskussionsrunden vorgeführt.
Dass das Zuhören übrigens eine zweiseitige Angelegenheit ist, versteht sich von selbst. Wer in Deutschland leben will, muss Deutschlands Geschichte kennen. Muss den Menschen hier zuhören wollen und dafür die Sprache lernen. Aber das versteht sich, wie gesagt, von selbst.
Und dann? Wenn wir gelernt haben, einander zuzuhören? Einander wahrzunehmen, das Land miteinander zu teilen – als Menschen statt als Fremde, Eindringlinge, die sich gegenseitig etwas wegnehmen wollen? Der ultimative Traum sozusagen? Nun, der ist eigentlich ganz einfach. Dann schmeißt jeder, der dieses Buch gerade in den Händen hält, es einfach in den Mülleimer. Weil man es nicht mehr braucht, weil es irrelevant geworden ist, so wie man alte Mathebücher entsorgt, wenn man das Einmaleins schon beherrscht. Ich wünsche mir beim Schreiben, dass dieses Buch überflüssig sein wird, weil so klar, so selbstverständlich ist, dass wir Wir sind.
Deutschland 2.0
Ein Kapitel, in dem das Wörtchen »eigentlich« häufiger auftaucht, als mir recht ist
Lange bevor ich Deutsch konnte, hatte ich Schwäbisch gelernt. Ich war überzeugt davon, dass Weckle Weckle heißen, Fleischküchle Fleischküchle und Kehrwoche ein feststehender bundesdeutscher Begriff ist, der zu Deutschlands – in meinen Augen oft sonderbaren – Ritualen ebenso dazugehört wie Tatort -Schauen am Sonntagabend. Ich lernte nicht nur Schwäbisch, ich lernte Schwäbischland kennen. Ich war zudem ein Besserwisserkind und dabei, mich in diesem Land – das ich mit der schwäbischen Kleinstadt, in der meine Familie zufällig gelandet war, gerne verwechselte – zurechtzufinden und zu behaupten. Und gleichzeitig so zu tun, als wüsste ich bereits Bescheid. Über Deutschland an sich. Also erklärte ich meinen Eltern, während ich ihnen Teile der Tagesschau ins Russische übersetzte – Kinder lernen
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