'Sie können aber gut Deutsch'
Alltag: eine Gesellschaft, die nicht mehr nur aus Menschen besteht, die seit Generationen hier leben und deren Muttersprache selbstverständlich das Deutsche ist. Zu der der pfälzisch sprechende Japaner genauso gehört wie seine in Ostberlin geborene Kollegin, dem auch das Grundschulkind, das zwar hier geboren wurde, aber bei der Einschulung nur Türkisch versteht, zuzurechnen ist, genauso wie der Ur-Münchner, der von einem Job an einer amerikanischen Universität träumt. Von der die FDP wählende Unternehmensberaterin, deren Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, ebenso ein Teil ist wie Ulf Mayer aus Untertürkheim, der von Hartz IV lebt, weil er sich zu gut für einen Mini-Job ist, und auch ich und Sie. Eine Gesellschaft, die heterogen – und deshalb so spannend, deshalb aber auch eine Herausforderung ist.
Zu spät dran sind wir auch mit unseren Ängsten. Mit Ängsten, die so manch einer – in den letzten Jahren tat sich da ein gewisser Thilo Sarrazin besonders hervor – geschickt zu schüren weiß, die irgendwo in jeder Gesellschaft, vielleicht sogar in jedem von uns schlummern und uns so vereinnahmen können, dass wir in der Angst vor dem, was auf uns zukommen könnte – nämlich dass Ausländer (in dieser letzten, traurigen Debatte Ausländer = Muslime) Deutschland abschaffen könnten –, ganz vergessen, die Realität zu sehen. Und die sieht folgendermaßen aus: Wir leben längst in einer ethnisch gemischten Gesellschaft. Wir leben längst in einer Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Ansichten, Lebenseinstellungen und Zukunftsvorstellungen miteinander
nicht zurechtkommen müssen, sondern bereits seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten zurechtkommen. Meistens sehr gut sogar, und selbst wenn es an manchen Stellen hapert – eine stabile Gesellschaft wie Deutschland muss solche Schwierigkeiten auffangen können.
Schauen wir doch mal auf die Kinder, unsere Zukunft. Fast jedes dritte Kind, das hierzulande aufwächst, hat einen Migrationshintergrund, so das Statistische Bundesamt. Diejenigen, die ihn nicht mitbringen, versuchen bereits in der Schulzeit ins Ausland zu gehen, weil ihnen genau das fehlt: die Erfahrung, andere Kulturen kennenzulernen, zu schätzen, zu leben. Diese Generation ist nicht nur ein Wir, für sie ist dieses Wir selbstverständlich. Das ist eine wertfreie Beobachtung, eine Tatsache, keine Ideologie. Dieses Wir ist nicht naiv-verklärt schön, nicht einfach nur Multikulti, schon gar nicht ist es unproblematisch. Bunt, vielfältig, spannend ist es aber auf jeden Fall.
Nicht wertfrei hingegen ist folgender Appell: Es ist an der Zeit, dass wir dieses Wir genießen. Nicht nur damit zurechtkommen, uns im Nebeneinander einrichten, ein Zusammenleben ermöglichen, sondern das Wir genießen, uns daran erfreuen, es auskosten, es ausnutzen. Beginnen, davon zu profitieren, um dieses Land besser, spannender, erfolgreicher zu machen. Dazu müssen wir aber das Wir kennen, müssen einander kennenlernen, einander zuhören. Wir müssen miteinander reden.
Als ich aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kam, ein Kind ohne Deutschkenntnisse, aber mit vielen Erwartungen an den paradiesischen Westen, schien das Land, das mein neues Zuhause werden sollte, in erster Linie bunt. Alles schien bunt, die Obstauslagen der Supermärkte, die Blumenwiesen im Stadtpark, die Menschen auf den Straßen in
den bunten Kleidern. Am buntesten war der Schulhof: leuchtende pinkfarbene und neongelbe Fahrradhelme, mit unzähligen farbenfrohen Bildern beklebte Schulranzen, gestreifte, gepunktete, blumenverzierte T-Shirts über in der Sonne schimmernden schwarzen Leggings.
Dazwischen stand ich, meist verkroch ich mich in eine Ecke, drückte mich am Zaun herum, um die anderen nicht merken zu lassen, was mich so offensichtlich schmerzte: dass ich nicht dazugehörte. Ich passte nicht in das bunte Gewimmel. Ich trug zwar meine nagelneue Jeans und meinen maßgeschneiderten hellgrünen Parka, beides aus der Sowjetunion importiert, aber ich war nicht bunt genug. Die Jeans hatte ich eine Woche vor unserer Ausreise aus Russland von meiner Großmutter geschenkt bekommen, sie hatte lange dafür gespart. Den Parka, ein damals neurussisches Modewort aus der Burda -Zeitschrift, die Anfang der Neunziger in der Sowjetunion unter der Hand vertrieben wurde, hatten meine Eltern für mich nach Maß anfertigen lassen, weil die Auslagen in den russischen Geschäften
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