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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hereingekommen war, ihm die Kapseln vorenthalten und ihm die Erlaubnis abgenötigt hatte, das Manuskript von Schnelle Autos lesen zu dürfen. Er spürte, wie ihm vor Scham und Demütigung die Hitze ins Gesicht stieg, aber nun hatte sich echte Wut dazugesellt: Sie war von einem Funken zu einer winzigen glosenden Flamme geworden. Er hatte niemals jemandem ein Manuskript gezeigt, bevor er es korrigiert und neu abgetippt hatte. Niemals. Nicht einmal Bryce, seinem Agenten. Niemals. Er hatte nicht einmal …
    Für einen Augenblick waren all seine Gedanken wie weggeblasen. Er hörte das leise Muhen einer Kuh.
    Nun, er hatte nicht einmal eine Kopie gemacht, bevor er die korrigierte Fassung fertig hatte.
    Das Manuskript von Schnelle Autos , das sich jetzt in Annie Wilkes’ Besitz befand, war tatsächlich das einzige
Exemplar auf der ganzen Welt. Er hatte sogar seine Notizen verbrannt.
    Zwei Jahre harter Arbeit; es gefiel ihr nicht, und sie war verrückt.
    Sie mochte Misery; Misery galt ihr ganzes Interesse, nicht irgendeinem fluchenden kleinen Autodieb aus Spanish Harlem.
    Er erinnerte sich daran, dass er gedacht hatte: Meinethalben kannst du Papierhüte aus den Manuskriptseiten falten, wenn du möchtest, aber … bitte …
    Wut und Demütigung brandeten wieder heran und weckten das erste dumpfe Pochen in seinen Beinen. Ja. Die Arbeit, der Stolz auf die Arbeit, der Wert der Arbeit selbst … all diese Dinge verblassten zu den Laterna-Magica-Schatten, die sie im Grunde genommen waren, wenn die Schmerzen schlimm genug wurden. Dass sie ihm das antun würde - dass sie ihm das antun konnte , wo er doch sein gesamtes erwachsenes Leben in der Gewissheit verbracht hatte, dass das Wort Schriftsteller die wichtigste Definition seiner selbst war -, ließ sie vollkommen monströs erscheinen, etwas, dem er entkommen musste. Sie war wirklich eine Göttin, und wenn sie ihn nicht umbrachte, dann würde sie wahrscheinlich töten, was in ihm war.
    Jetzt hörte er das gierige Grunzen des Schweins - sie hatte gedacht, es würde ihn kränken, aber er fand, Misery war ein ausgezeichneter Name für ein Schwein. Er erinnerte sich daran, wie sie es nachgeahmt hatte, wie sie die Oberlippe zur Nase hin hochgewölbt hatte, wie die Wangen scheinbar flacher geworden waren, wie sie einen Augenblick tatsächlich wie ein Schwein ausgesehen hatte: Oiink! OIIINKK!

    Aus dem Stall vernahm er ihre Stimme: »Schweiiiin-chen! Put-put-put!«
    Er legte sich zurück, bedeckte die Augen mit einem Arm und versuchte, sich an seine Wut zu klammern, denn mit dieser Wut fühlte er sich tapfer. Ein tapferer Mann konnte denken. Ein Feigling nicht.
    Er hatte es mit einer Frau zu tun, die Krankenschwester gewesen war - dessen war er sich ganz sicher. War sie immer noch Krankenschwester? Nein, denn sie ging nicht zur Arbeit. Weshalb ging sie ihrem Beruf nicht mehr nach? Das schien auf der Hand zu liegen. Sie hatte eindeutig nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und wenn er das selbst durch den Schleier der Schmerzen, in denen er lebte, bemerkt hatte, dann musste es ihren Kollegen sicher auch aufgefallen sein.
    Zudem verfügte er über ein paar zusätzliche Informationen, um zu beurteilen, wie viele Tassen sie nicht mehr im Schrank hatte, oder? Sie hatte ihn aus dem Wrack seines Autos gezerrt, und anstatt die Polizei oder einen Krankenwagen zu rufen, hatte sie ihn in ihr Gästezimmer gebracht, hatte ihn an den Tropf gehängt und seinen Körper mit einer ganzen Menge Drogen vollgepumpt. So viel, dass er mindestens einmal eine Atemlähmung gehabt hatte, wie sie es ausdrückte. Sie hatte niemandem erzählt, dass er hier war, und dass sie das bisher nicht getan hatte, bedeutete zwangsläufig auch, dass sie es auch weiterhin nicht vorhatte.
    Hätte sie ebenso gehandelt, wenn sie Joe Blow aus Kokomo aus dem verunglückten Wagen gezogen hätte? Nein. Nein, das glaubte er nicht. Sie hatte ihn bei sich behalten, weil er Paul Sheldon war, und sie …

    »Sie ist mein größter Fan«, murmelte Paul und bedeckte die Augen wieder mit seinem Arm.
    Dort, in der Dunkelheit, erblühte eine schreckliche Erinnerung: Seine Mutter war mit ihm in Boston in den Zoo gegangen, und er hatte einen riesengroßen Vogel betrachtet. Er hatte die schönsten Federn - rot, purpurn und königsblau - gehabt, die er jemals gesehen hatte … und die traurigsten Augen. Er hatte seine Mutter gefragt, woher der Vogel stammte, und als sie Afrika geantwortet hatte, da war ihm klar geworden, dass das Tier dazu verdammt war,

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