Sie
kam herein - aber sie hatte ein langes Schürzenkleid an und trug eine Morgenhaube auf dem Kopf; sie war wie Misery Chastain in Miserys Liebe gekleidet. Über einem Arm trug sie einen Weidenkorb. Der Inhalt war mit einem Handtuch zugedeckt. Unter seinen Blicken schlug sie das Handtuch zurück. Sie griff hinein, holte eine Handvoll einer Substanz heraus und schleuderte sie dem ersten schlafenden Paul Sheldon ins Gesicht. Er sah, dass es sich um Sand handelte - dies war Annie Wilkes, die so tat, als wäre sie Misery Chastain, die so tat, als wäre sie der Sandmann. Die Sand frau .
Dann sah er, dass das Gesicht des ersten Paul Sheldon totenbleich wurde, als es von dem Sand berührt wurde, und Angst ergriff ihn und riss ihn aus dem Traum heraus und ins Schlafzimmer, wo Annie Wilkes über ihn gebeugt stand. In einer Hand hielt sie das umfangreiche Taschenbuch Miserys Kind . Das Lesezeichen verriet, dass sie etwa drei Viertel davon gelesen hatte.
»Sie haben gestöhnt«, sagte sie.
»Ich hatte einen schlechten Traum.«
»Wovon handelte er?«
Er sagte das Erste, was ihm einfiel, das nicht der Wahrheit entsprach.
»Afrika.«
13
Am nächsten Morgen kam sie sehr spät zu ihm, und ihr Gesicht hatte die Farbe von Asche. Er hatte gedöst, aber er wurde auf der Stelle wach und stützte sich auf die Ellbogen.
»Miss Wilkes? Annie? Alles in O…«
»Nein.«
Herrgott, sie hatte einen Herzanfall, dachte er und war einen Augenblick in Panik, die sich jedoch unverzüglich in Freude verwandelte. Sollte sie doch einen haben! Einen schweren! Sollte doch verdammt noch mal ihr Herz auseinanderreißen! Er wäre überglücklich, auf dem Boden zum Telefon zu kriechen, wie sehr es auch schmerzen würde. Er würde über Glasscherben zum Telefon kriechen, sollte es nötig sein.
Und es war ein Herzanfall … aber nicht von der Sorte, die er erhofft hatte.
Sie kam auf ihn zu, nicht unbedingt taumelnd, aber schlingernd , wie ein Matrose, der nach einer langen Fahrt übers Meer zum ersten Mal wieder Land unter den Füßen hat.
»Was …« Er versuchte sich vor ihr zu ducken, aber es gab kein Entkommen. Er hatte das Kopfteil des Bettes hinter sich und dahinter die Wand.
»Nein!« Sie erreichte die Seite des Bettes, stieß dagegen, schwankte und drohte einen Augenblick, auf ihn zu fallen. Dann stand sie einfach nur da, sah mit ihrem papierweißen Gesicht auf ihn herunter, die Sehnen in ihrem Nacken standen hervor, und eine Ader pulsierte mitten auf ihrer Stirn. Sie öffnete zuckend die Hände, ballte sie zu massiven felsähnlichen Fäusten und öffnete sie erneut.
»Sie … Sie … Sie Schmutzfink! «
»Was … ich verstehe nicht …« Aber dann verstand er plötzlich, und seine gesamte Körpermitte schien zuerst hohl zu werden und dann ganz zu verschwinden. Er erinnerte sich daran, wo gestern Abend ihr Lesezeichen gewesen war, sie hatte drei Viertel des Buches hinter sich gehabt. Sie hatte es zu Ende gelesen. Sie wusste jetzt alles, was sie wissen musste. Sie wusste, dass doch nicht Misery unfruchtbar war, sondern Ian . Hatte sie in ihrem Wohnzimmer gesessen, das er immer noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, den Mund klaffend aufgesperrt und die Augen aufgerissen, als Misery schließlich die Wahrheit erkannte, ihre Entscheidung fällte und sich zu Geoffrey davonstahl? Hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt, als ihr klar wurde, dass Misery und Geoffrey keineswegs eine heimliche Affäre hinter dem Rücken des Mannes hatten, den sie beide liebten, sondern ihm das größte Geschenk
machten, dessen sie fähig waren - ein Kind, welches er für sein eigenes halten würde? Hatte ihr Herz schneller geschlagen, als Misery Ian offenbarte, dass sie schwanger war, und Ian sie an sich gepresst und, während ihm Tränen aus den Augen liefen, immer wieder gemurmelt hatte: »Meine Liebste, oh, meine Liebste!«? In diesen wenigen Sekunden war er sich sicher, dass alles genau so gewesen war. Aber anstatt vor überschwänglichem Kummer zu weinen, wie sie es hätte tun sollen, als Misery auf dem Kindbett ihr Leben aushauchte, als sie den Jungen gebar, den Ian und Geoffrey wahrscheinlich gemeinsam großziehen würden, war sie wie von Sinnen vor Zorn.
»Sie kann nicht tot sein!«, schrie Annie Wilkes ihn an. Ihre Hände öffneten und ballten sich in einem immer schnelleren Rhythmus. »Misery Chastain KANN NICHT TOT SEIN!«
»Annie … Annie, bitte …«
Auf dem Nachttisch stand ein Glaskrug mit Wasser. Sie ergriff ihn und schwenkte ihn in seine
Weitere Kostenlose Bücher