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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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zufällig zwei gebrochene Beine hat und sich in MEINEM Haus aufhält und MEIN Essen isst … und … «
    Da schaltete sie wieder ab. Sie richtete sich auf, die Arme hingen schlaff zu ihren Seiten herab, und sie sah zur Wand, wo eine alte Fotografie des Triumphbogens hing. Sie stand da, und Paul lag in seinem Bett mit runden Abdrücken im Kissen neben seinen Ohren und sah zu ihr auf. Er konnte das Wasser aus dem Krug auf den Boden tropfen hören, und er wurde sich bewusst, dass er einen Mord begehen konnte. Das war eine Frage, die er sich von Zeit zu Zeit gestellt hatte, rein akademisch natürlich, aber jetzt war sie das nicht mehr, und er wusste die Antwort. Wenn sie den Krug nicht geworfen hätte, dann hätte er ihn selbst auf dem Boden zerschmettert und versucht, ihr mit einer Scherbe die Kehle aufzuschlitzen, während sie da so reglos wie ein Schirmständer stand.
    Er sah sich an, was sich aus der Schublade ergossen hatte, aber da war nur das Kleingeld, ein Stift, ein Kamm und seine Uhr. Keine Brieftasche. Noch entscheidender: kein Schweizer Taschenmesser.

    Sie kam nach und nach wieder zu sich, und nun war immerhin ihr Zorn verraucht. Sie sah traurig auf ihn herab.
    »Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe. Ich glaube, ich sollte Ihnen eine Zeit lang aus dem Weg gehen. Bei Ihnen zu bleiben wäre nicht gerade … klug.«
    »Gehen? Wohin?«
    »Spielt keine Rolle. An einen Ort, den ich kenne. Wenn ich hierbleibe, werde ich etwas Unkluges tun. Ich muss nachdenken. Auf Wiedersehen, Paul.« Sie durchquerte das Zimmer.
    »Kommen Sie zurück, um mir meine Medizin zu geben?«, fragte er erschrocken.
    Sie ergriff den Türknauf und zog die Tür zu, ohne ihm eine Antwort zu geben. Zum ersten Mal hörte er, wie ein Schlüssel umgedreht wurde.
    Er hörte, wie sich ihre Schritte den Flur entlang entfernten; er zuckte zusammen, als er sie wütend herumbrüllen hörte - Worte, die er nicht verstehen konnte, und noch mehr fiel herunter und zerschellte. Eine Tür wurde zugeschlagen. Ein Motor keuchte und sprang an. Das leise, knirschende Quietschen von Reifen, die auf festgestampftem Schnee anfahren. Dann wurde der Motorenlärm leiser. Er wurde zu einem Brummen, dann zu einem Summen, dann war er verschwunden.
    Er war allein.
    Allein in Annie Wilkes’ Haus, in diesem Zimmer eingeschlossen. An dieses Bett gefesselt. Die Entfernung zwischen hier und Denver war wie … nun, wie die Entfernung zwischen dem Zoo von Boston und Afrika.
    Er lag auf dem Bett und sah zur Decke, seine Kehle war trocken, und sein Herz raste.

    Nach einer Weile schlug die Uhr im Wohnzimmer Mittag, und die Flut begann zurückzuweichen.

14
    Einundfünfzig Stunden.
    Er wusste es genau dank des Stiftes, des Flair-Fineliners, den er zum Zeitpunkt des Unfalls in der Tasche gehabt hatte. Es war ihm gelungen, sich zum Boden zu beugen und ihn aufzuheben. Jedes Mal, wenn die Uhr schlug, machte er eine Markierung auf seinem Arm - vier vertikale Linien, dann eine Diagonale, die das Quintett vervollständigte. Als sie zurückkam, hatte er zehn Fünferblöcke und einen Einzelstrich. Die kleinen Gruppen waren anfangs ordentlich, wurden aber zunehmend verwackelter, als seine Hände zu zittern angefangen hatten. Er glaubte nicht, dass ihm eine einzige Stunde entgangen war. Er hatte gedöst, aber niemals richtig geschlafen. Das Läuten der Uhr weckte ihn jedes Mal, wenn eine Stunde verstrichen war.
    Nach einer Weile begann er Hunger und Durst zu verspüren - trotz der Schmerzen. Es wurde zu einer Art Pferderennen. Anfangs lag König des Schmerzes Längen in Führung, Ich Habe Hunger lag zwölf Achtelmeilen zurück. Verdammt Durstig war im Staub fast nicht zu sehen. Dann, bei Sonnenuntergang am Tag, nachdem sie fortgegangen war, ließ Ich Habe Hunger den bislang führenden König des Schmerzes sogar ein wenig hinter sich zurück.
    Den größten Teil der Nacht hatte er abwechselnd gedöst oder war in kalten Schweiß gebadet und von der Gewissheit
erfüllt erwacht, dass er sterben würde. Nach einer Weile begann er zu hoffen , dass er sterben würde. Alles wäre ihm recht gewesen, um seiner Lage zu entfliehen. Er hatte bisher keine Ahnung gehabt, wie schlimm Schmerzen werden konnten. Die Pfähle wuchsen und wuchsen. Er konnte die Muscheln sehen, welche sie verkrusteten, konnte bleiche, ertrunkene Dinge erkennen, die schlaff in den Fugen des Holzes lagen. Sie gehörten zu den Glücklichen. Für sie hatte das Leiden ein Ende. Gegen drei Uhr hatte er einen sinnlosen Schreianfall

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