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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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    Am Mittag des zweiten Tages - Stunde Nummer vierundzwanzig - wurde ihm schließlich klar, dass ihn noch etwas anderes quälte, so schlimm die Schmerzen in seinen Beinen und dem Becken auch waren. Es war der Entzug. Dieses Pferd konnte er Junkies Rache nennen, wenn er wollte. Er brauchte die Kapseln in mehr als einer Hinsicht.
    Er dachte daran zu versuchen, vom Bett aufzustehen, aber der Gedanke an den Sturz und die damit verbundene Steigerung des Schmerzes hielt ihn davon ab. Er konnte sich nur zu gut vorstellen,
    (»So lebhaft!«)
    wie es sich anfühlen würde. Er hätte es vielleicht dennoch versucht, aber sie hatte die Tür abgeschlossen. Was konnte er anderes tun, als wie eine Schlange dorthin zu kriechen und dann davor liegen zu bleiben?
    In seiner Verzweiflung schlug er zum ersten Mal mit den Händen die Decke zurück und hoffte wider alle Vernunft, dass es nicht so schlimm sein würde, wie die Formen unter der Decke erahnen ließen. Es war nicht so schlimm; es war schlimmer. Voller Entsetzen starrte er das an, was unterhalb
der Knie aus ihm geworden war. In Gedanken hörte er die Stimme von Ronald Reagan in Kings Row , die kreischte: »Wo ist der Rest von mir?«
    Der Rest von ihm war da, und es bestand vielleicht die Hoffnung, es zu überstehen; die Aussichten darauf schienen nun ferner denn je, aber er vermutete, dass es technisch möglich war … doch es konnte gut sein, dass er nie wieder gehen konnte - sicherlich nicht bevor seine Beine nochmals gebrochen worden waren, möglicherweise an mehreren Stellen, mit Stahl aneinandergeklammert, gnadenlos generalüberholt und fünfzig anderen schmerzhaften Unwürdigkeiten unterzogen.
    Sie hatte sie geschient - selbstverständlich hatte er das gewusst, hatte er doch die starren, unnachgiebigen Formen gespürt, aber bis jetzt hatte er nicht gewusst, womit sie es gemacht hatte. Seine Schienbeine waren mit kurzen Stahlrohren geschient worden, die wie abgesägte Teile von Aluminiumkrücken aussahen. Diese Stangen hatte sie dicht mit Klebeband umwickelt, sodass er vom Knie abwärts ein wenig wie Im-Ho-Tep aussah, als dieser in seiner Gruft gefunden wurde. Die Beine selbst waren bis hinauf zu den Knien seltsam gewunden: hier ein Knick nach außen, dort nach innen verdreht. Sein linkes Knie - ein pulsierendes Schmerzzentrum - schien überhaupt nicht mehr zu existieren. Da war eine Wade, ein Oberschenkel, und dazwischen ein übelkeiterregendes Etwas, das an einen Salzstock erinnerte. Die Oberschenkel waren böse geschwollen und schienen ein klein wenig nach außen gekrümmt zu sein. Oberschenkel, Unterleib, sogar sein Penis waren immer noch mit verblassenden Blutergüssen bedeckt.

    Er hatte gedacht, seine Unterschenkel wären gebrochen. Das war nicht der Fall, wie sich herausstellte. Sie waren pulverisiert .
    Stöhnend und weinend zog er die Decke wieder darüber. Es war unmöglich, sich aus dem Bett zu wälzen. Es war besser, hier zu liegen und zu sterben, besser, dieses Maß an Schmerzen zu akzeptieren, so unerträglich es auch war, bis aller Schmerz ein Ende hatte.
    Gegen vier Uhr am zweiten Tag holte Verdammt Durstig schließlich auf. Er hatte schon eine ganze Weile bemerkt, wie trocken sein Mund und die Kehle waren, aber nun schien das Gefühl deutlicher zu werden. Seine Zunge fühlte sich zu dick und zu groß an. Das Schlucken war schmerzhaft. Er fing an, an den Wasserkrug zu denken, den sie zerschlagen hatte.
    Er döste, erwachte, döste.
    Der Tag ging zu Ende. Es wurde Nacht.
    Er musste urinieren. Er legte die Bettdecke über seinen Penis, um einen behelfsmäßigen Filter herzustellen, und urinierte durch diesen hindurch in seine hohlen und zitternden Hände. Er versuchte, es als Recycling zu sehen, und trank, was er hatte auffangen können, dann leckte er sich die feuchten Handflächen ab. Auch das war etwas, wovon er keinem erzählen würde, wenn er lange genug leben sollte, um jemandem irgendetwas zu erzählen.
    Er begann zu glauben, dass sie tot war. Sie war zutiefst labil, und labile Menschen nahmen sich häufig das Leben. Er sah sie
    (»So lebhaft!«)
    mit Old Bessie - ihrem Wagen, den sie ›alte Bessie‹ nannte - an den Straßenrand fahren, eine.44er unter dem Sitz hervorholen,
sie in den Mund schieben und sich damit erschießen. »Wenn Misery tot ist, möchte ich auch nicht mehr leben. Adieu, grausame Welt!«, schrie Annie durch den Schleier ihrer Tränen und zog den Abzug.
    Er kicherte, dann stöhnte er, dann schrie er. Der Wind schrie mit ihm …

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