Sieben Jahre später
Hals und tupfte mit dem Zeigefinger einen Hauch von himbeerfarbenem Lipgloss auf.
Sie gab ihrem adretten Schulmädchenlook einen letzten Schliff, indem sie sich mit der It-Bag in knalligem Rosa, die sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, ausstaffierte.
»Hallo, Papa!«, rief sie und nahm an der Küchentheke Platz.
Ihr Vater antwortete nicht. Camille musterte ihn. Er wirkte elegant in seinem dunklen Anzug. Übrigens hatte sie ihm zu diesem italienischen Modell geraten: ein leicht tailliertes Sakko mit tief angesetzten Schultern, das tadellos passte. Doch jetzt stand er mit finsterer Miene und ausdruckslosem Blick vor der Fensterfront.
»Alles in Ordnung?«, fragte Camille besorgt. »Soll ich dir noch einen Kaffee machen?«
»Nein.«
»Na, dann nicht …«, erwiderte sie leichthin.
Ein köstlicher Geruch von geröstetem Toast hing in der Luft. Sie schenkte sich ein Glas Orangensaft ein, faltete ihre Serviette auseinander, aus der … ihre Pillenschachtel fiel.
»Kannst … kannst du mir das bitte erklären?« Ihre Stimme zitterte.
»Wer hier was zu erklären hat, bist du!«, knurrte ihr Vater.
»Du hast in meinen Sachen herumgeschnüffelt!«, rief sie empört.
»Schweife bitte nicht vom Thema ab! Was hat eine Antibabypille in deinem Reisenecessaire zu suchen?«
»Das ist mein Privatleben!«, protestierte sie.
»Mit fünfzehn Jahren hat man kein Privatleben.«
»Du hast kein Recht, mich auszuspionieren!«
Sebastian trat näher und richtete drohend den Zeigefinger auf sie.
»Ich bin dein Vater, ich habe alle Rechte!«
»Du lässt mir nicht die geringste Freiheit. Du kontrollierst alles: meine Freunde, meine Verabredungen, meine Post, die Filme, die ich mir ansehe, die Bücher, die ich lese …«
»Hör zu, ich erziehe dich ganz allein – seit sieben Jahren, und …«
»Weil du es so gewollt hast!«
Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch.
»Antworte auf meine Frage: Mit wem schläfst du?«
»Das geht dich nichts an! Ich brauche dich nicht um Erlaubnis zu bitten! Das ist nicht dein Leben! Ich bin kein Kind mehr!«
»Du bist zu jung für sexuelle Beziehungen. Das ist purer Leichtsinn! Was willst du eigentlich? Wenige Tage vor dem Tschaikowsky-Wettbewerb dein Leben versauen?«
»Ich hab die Nase voll vom Geigenspiel! Und übrigens auch von dem Wettbewerb! Ich trete gar nicht erst an. Das hast du jetzt davon!«
»Sieh mal einer an! Das ist ja auch viel einfacher! Du müsstest gegenwärtig zehn Stunden täglich üben, um eine kleine Chance zu haben, beim Vorspiel zu glänzen. Stattdessen kauft sich die Lady Reizwäsche und Schuhe, so teuer wie das Bruttosozialprodukt von Burundi.«
»Hör auf, mir dauernd in alles reinzureden!«, schrie sie.
»Und du hör auf, dich anzuziehen wie eine Nutte! Wie … wie deine Mutter!«, brüllte er und verlor völlig die Fassung.
Überrascht von der Härte seiner Worte, ging sie zum Gegenangriff über.
»Du hast ja nicht mehr alle Tassen im Schrank! Du bist krank!«
Das war zu viel. Außer sich holte er aus und versetzte ihr eine so heftige Ohrfeige, dass sie das Gleichgewicht verlor. Der Hocker, auf den sie sich stützte, schwankte und kippte um.
Perplex richtete sich Camille auf, verharrte einen Augenblick reglos, noch völlig benommen von diesem Ausbruch. Dann kam sie wieder zu sich, griff nach ihrer Tasche, fest entschlossen, keine weitere Sekunde mehr in der Nähe ihres Vaters zu bleiben. Sebastian versuchte, sie zurückzuhalten, doch sie stieß ihn fort und rannte aus dem Haus, ohne die Tür zu schließen.
Kapitel 3
Das Coupé mit den getönten Scheiben bog in die Lexington Avenue ein und erreichte die 73th Street. Sebastian klappte die Sonnenblende herunter. Das Wetter in diesem Herbst 2012 war besonders schön. Noch erschüttert von der Auseinandersetzung mit Camille, war er völlig ratlos. Es war das erste Mal, dass er die Hand gegen sie erhoben hatte. Ihm war bewusst, wie demütigend es für sie gewesen sein musste, und er bereute die Ohrfeige zutiefst. Die Heftigkeit seiner Reaktion aber hatte dem Grad seiner Enttäuschung entsprochen.
Die Tatsache, dass seine Tochter eine sexuelle Beziehung haben könnte, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Das war viel zu früh und stellte die Pläne infrage, die er für sie hatte. Die Geige, die Ausbildung, die möglichen Berufe: Alles war bis ins Letzte durchdacht, strukturiert wie Notenpapier, da war kein Platz für etwas anderes …
Er atmete tief durch, um zur Ruhe zu kommen, und versuchte,
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