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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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wichtiger war als Form oder Stil oder Statik, und wider jede Vernunft war ich zuversichtlich und hatte Freude an der Arbeit. Es war mir, als hätte ich die Lösung im Kopf und müsste sie nur freilegen, müsste den ganzen Schutt meiner Ausbildung wegräumen und die eine Bewegung finden, die eine Linie, die aus mir selbst kam.
    Meinen ersten Entwurf hatte ich von der Grundstücksgeometrie aus geplant, hatte ihn aus dem zur Verfügung stehenden Kubus aus Grundstücksfläche und erlaubter Bauhöhe herausgearbeitet wie ein Bildhauer seine Figur aus einem Steinquader. Entstanden war ein puristischer Bau, der als Modell nicht reizlos war, aber im Inneren völlig unoriginell und undurchdacht. Jetzt versuchte ich, von innen heraus zu arbeiten, nicht von der Fassade ausgehend, sondern von den Räumen. Ich versetzte mich in einen Museumsbesucher und entwickelte die Struktur des Gebäudes in einem imaginierten Rundgang. Es war kein Konstruieren, sondern ein Arbeiten nach Gefühl, ich probierte die Räume an wie Kleider. Oft stand ich mit geschlossenen Augen in meinem Arbeitszimmer und schob die Wände hin und her, beobachtete den Lichteinfall, tastete mich langsam vor. Wenn jemand mich beobachtet hätte, hätte er denken müssen, ich sei verrückt geworden. Aber mit der Zeit entstand ein System von Räumen, Durchgängen und Öffnungen, das eher einem Organismus als einem Gebäude ähnelte. Erst danach machte ich mich an die Gebäudehülle, die so wirklich nicht mehr als eine Hülle war.
    Im Bungalow war es sehr heiß, und ich verbrachte ganze Tage nur in Unterwäsche und hinter geschlossenen Jalousien. Ich trank riesige Mengen Kaffee, bis ich kalte Schweißausbrüche hatte, und aß erst, wenn mir übel wurde vor Hunger. Abends ging ich kurz hinaus, um mir ein paar Flaschen Bier zu kaufen und einen Döner, den ich mir einpacken ließ und mit nach Hause nahm. Im Studentendorf war viel los so kurz vor Semesterende, und jeden Abend waren laute Musik und der Lärm feiernder Leute aus den Nachbarbungalows und vom zentralen Platz zu hören. Aber ich hielt mich von allem fern, saß auf der kleinen Terrasse und schaute in den Himmel und dachte an Iwona. Ich sah sie vor mir, wie sie in der Gemeinschaftsküche des Studentenwohnheims stand und einfache Gerichte für sich zubereitete, Rührei oder Pellkartoffeln, die sie mit in ihr Zimmer nahm, um sie an ihrem kleinen Schreibtisch allein zu verzehren. Wenn sie fertig war, ging sie zurück in die Küche, wusch das Geschirr ab, wechselte vielleicht ein paar Worte mit einer anderen Polin, die sie vom Sehen kannte. Aber bald sagte sie, sie sei müde, und ging auf ihr Zimmer und zog sich aus und wusch sich mit einem Waschlappen. Das war die erotischste Vorstellung, die ich von ihr hatte, wie sie am Waschbecken stand und sich mit sachlichen Bewegungen den Bauch wusch, den Rücken, die schweren weichen Brüste. Trotz der Wärme im Zimmer ließ sie der kühle Lappen erschauern. Sie zog ihr Nachthemd an, das weiß war, mit Blumen bedruckt, ein formloses Hemd aus dünnem Trikotstoff, unter dem sich ihre Brustwarzen abzeichneten. Ich fragte mich, ob sie sich niederkniete zum Beten oder ob sie gleich ins Bett schlüpfte. Sie lag in der Dunkelheit, auf dem Rücken wie eine Tote, und lauschte auf die Geräusche der anderen Bewohner, das Rauschen einer Toilettenspülung, das Klingeln des Telefons im Flur und dann einer Stimme, die einen Namen rief, und später einer anderen Stimme, ein Murmeln nur, und vielleicht Musik oder Verkehrslärm von draußen. Sie lag wach und dachte an mich, wie ich an sie dachte. Der Gedanke machte mich seltsam glücklich. Es war mir, als wachten wir übereinander in einer Welt voller Fremdheit und Gefahr.
    Am nächsten Tag arbeitete ich weiter. Wenn das Telefon klingelte, ging ich nicht ran, auf meinem Anrufbeantworter waren schon ein halbes Dutzend Nachrichten. Sonja hatte mir hinterlassen, ihre Präsentation sei bestens gelaufen, und sie wünsche mir alles Gute für Donnerstag. Rüdiger hatte angerufen, Ferdi, meine Mutter, alle, um mir Glück zu wünschen.
     
    Ich hatte am Tag vor der Prüfung wieder bis tief in die Nacht hinein an meinem neuen Projekt gearbeitet. Am Donnerstag stand ich früh auf und schaute mir noch einmal die alte Arbeit an, die ich in wenigen Stunden vorstellen musste, was mir jetzt unmöglich schien.
    Auf dem Weg zur U-Bahn sah ich einen Milan, der von einer Krähe angegriffen wurde. Der Greifvogel zog ruhig seine Bahnen, die Krähe flatterte um ihn

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