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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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Es reicht, wenn du meine Diplomarbeit schreibst, sagte Rüdiger. Sie habe Kunstgeschichte studiert, sagte seine Mutter. Für Architektur habe sie immer ein Faible gehabt. Damals nach dem Krieg sei ja unglaublich viel verbrochen worden in dieser Hinsicht. Dann ging sie zurück ins Haus, und Rüdiger rief nach den anderen und legte Fleisch und Würste auf den Grill.
    Wir waren eine kleine Gruppe, etwas mehr als ein Dutzend Männer und Frauen. Die Hälfte von uns hatte mit Rüdiger studiert, Alice und eine ihrer Freundinnen besuchten das Konservatorium, einer von Rüdigers Freunden stand am Anfang einer diplomatischen Karriere. Birgit war da, eine Medizinstudentin, die mit Sonja und einer dritten Frau die Wohnung teilte. Ich hatte sie ein paar Mal gesehen, wenn ich Sonja abgeholt hatte, aber nie mehr als ein paar Worte mit ihr gesprochen. Einige der Gäste kannte ich nicht. Einer von ihnen studierte Veterinärmedizin, er hatte etwas Bäurisches und sagte nicht viel, aß aber unglaubliche Mengen Fleisch.
    Rüdiger hatte eine Tischordnung gemacht und wies uns unsere Plätze zu. Offenbar hatte er fest mit meinem Kommen gerechnet. Ich saß zwischen Sonja und einer Frau, die ich nicht kannte. Ferdi und Alice saßen am anderen Ende des Tisches. Als ich Ferdi am Büfett traf, schien er es für nötig zu halten, einen Kommentar abzugeben. Du nimmst mir das nicht übel, nicht wahr?, sagte er. Ich schüttelte den Kopf und machte ein erstauntes Gesicht. Warum sollte ich? Ich bin froh, dass sie in guten Händen ist. Er grinste, hob seine Hände und bewegte schnell die Finger. Wie geht’s deiner kleinen Polin? Ich tat, als verstünde ich ihn nicht. Hast du sie vernascht? Ich sagte, ich wisse nicht, was er meine, und ging zurück an meinen Platz. Ferdis Bemerkung hatte mir die Laune verdorben. Alles kam mir künstlich vor, die Gespräche der anderen langweilten mich, ihre großen Ideen, die Schwadroniererei Ferdis über den Dekonstruktivismus und über die verdrängte Unreinheit der Form. Er hatte immer besser geredet als gezeichnet und wechselte seine Vorbilder wie andere Leute die Hemden. An einem Tag war Gehry der Größte, am nächsten waren es Libeskind oder Koolhaas. Seine Entwürfe sahen entsprechend aus, sie hatten keine eigene Sprache, waren gezähmte, mehrheitsfähige Versionen großer Ideen. Bestimmt würde er Erfolg haben und viel Geld verdienen mit zweitklassigen Bauten in mittelgroßen Städten, die seine Auftraggeber für große Architektur halten würden.
    Sonja fing an, sich mit ihm zu streiten. Sie war eine Verehrerin Le Corbusiers und verachtete den Dekonstruktivismus. Sie sprach von Wohnmaschinen und sozialen Funktionszonen. Ihre naive Liebe zur Unterschicht müsse mit ihrer gutbürgerlichen Herkunft zu tun haben, sagte ich. Ich merkte, dass ich sie gekränkt hatte, aber es war mir egal. Rüdiger beteiligte sich kaum an der Diskussion. Vermutlich war er der Talentierteste, sicher der Originellste von uns, nur er hatte es schaffen können, auf so spektakuläre Weise zu scheitern. Seine Ideen waren ausgefallen und vollkommen eigenständig, aber er hatte nicht die Energie, sie zu Ende zu denken, oder tat es auf so nachlässige Art, dass die Professoren ihm zu Recht schlechte Noten gaben. Trotzdem behandelten ihn alle mit Respekt. Er habe Potenzial, dieser Satz fiel oft, wenn von Rüdiger gesprochen wurde. Er hörte uns zu und machte dann eine Bemerkung, die niemand verstand. Er versuchte sich zu erklären und wurde dabei noch weniger verstanden und verstummte irgendwann mit einem seligen Lächeln. Dann fing Alice ohne jeden Zusammenhang an, von einem Konzert zu erzählen, das sie besucht hatte. Ihre Selbstdarstellung war noch erbärmlicher als die der anderen, sie sprach mit künstlichem Überschwang und produzierte sich wie ein kleines Mädchen. Alle Menschen, die sie traf, waren Genies, alle Bücher, die sie las, Meisterwerke, alle Musik, die sie hörte oder spielte, großartig.
    Nach einer Weile ertrug ich das Geschwätz nicht mehr und ging hinunter ans Ufer. Links und rechts von der Badestelle standen alte Bäume, die im flackernden Licht der Fackeln wie lebendige Wesen wirkten. Drüben am anderen Ufer waren Lichter zu sehen, die sich im Wasser spiegelten und vervielfachten. Ich zündete mir eine Zigarette an, da hörte ich hinter mir Schritte. Es war der Veterinärmedizinstudent. Er hielt eine Bratwurst in der Hand und sagte kauend, wir haben uns gar nicht vorgestellt, und streckte mir die freie Hand hin. Er

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