Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
Wort zum Sonntag.
Kyra schleppte sich erschöpft zum Fernseher und schaltete ihn ein. Mit der Fernbedienung in der Hand fiel sie zurück in die Kissen.
Auf dem erstbesten Sender, der um diese Uhrzeit keinen Sexfilm aus den Siebzigerjahren zeigte, lief ein kurzer Bericht über die Mondfinsternis, die sich heute Nacht ereignen sollte.
Stimmte ja, das hatte Kyra ganz vergessen. Die Mondfinsternis! Sie hatte eigentlich dabei zuschauen wollen.
Sie sprang auf und lief zur Terrassentür. Die eine Wand des Wohnzimmers bestand komplett aus Glas. Wenn man die riesige Schiebetür beiseite zog, sah man eine Terrasse vor sich, so groß wie bei anderen Häusern der ganze Garten. Ein Bewegungsmelder klickte, als Kyra die Lichtschranke passierte. Scheinwerfer erhellten die vorderen Büsche und Bäume. Ein kühler Wind ließ die Zweige und Blätter rascheln, geisterhaftes Flüstern aus den Tiefen der Nacht.
Kyra trat unter dem Vordach hervor und blickte zum Himmel. Erst glaubte sie, es sei zu bewölkt, um die Sterne sehen zu können. Dann aber wurde ihr klar, dass das Licht der Scheinwerfer das Funkeln der Gestirne überlagerte. Wenn sie die Mondfinsternis beobachten wollte, würde sie die Gartenbeleuchtung ausschalten müssen.
Die Frage war nur, wie. Die Lampen flammten auf, sobald sie eine der Lichtschranken durchschritt. Und im Wohnzimmer gab es ihres Wissens keinen Hauptschalter.
Aber – Augenblick! – sie wusste doch, wo sich der Sicherungskasten befand! Wenn sie für ein paar Minuten den Strom im Wohnzimmer und im Garten abschaltete, würde sie den Mond und die Sterne besser erkennen können.
Sie setzte ihren Plan gleich in die Tat um, froh, dass es etwas gab, das sie von Tommy und ihrem Selbstmitleid ablenkte. Sie öffnete den Sicherungskasten im Flur, gleich neben der Küchentür. Neben einem Schalter klebte ein Schild mit der Aufschrift »Garten, Wohnzimmer & Flur«. Kyra klappte den Kippschalter nach unten, und sogleich erlosch um sie herum das Licht.
Aus der Küche fiel der sanfte Schein der Herdbeleuchtung, und das reichte aus, um den Weg zurück ins finstere Wohnzimmer zu finden. Bald darauf stand sie wieder auf der Terrasse. Das fahle Licht des Mondes warf gespenstische Schatten.
Das Wispern der Bäume klang auf einen Schlag ganz anders als zuvor. Heimtückischer, so, als heckten jenseits der Blätter geheimnisvolle Wesen Gemeinheiten aus.
Kyra atmete tief durch. Seit sie und ihre drei besten Freunde Nils, Lisa und Chris zu Trägern der Sieben Siegel geworden waren, hatte sich vieles verändert. Mit einem Mal schien es für ein zwölfjähriges Mädchen wie sie ganz normal, zu jeder Tages- und Nachtzeit mit den Angriffen blutrünstiger Dämonen rechnen zu müssen.
Nur einmal, nur heute Abend, wollte sie ein ganz normaler Teenager sein.
Aber standen normale Teenager wirklich nachts im Garten und beobachteten eine Mondfinsternis? Egal. Ich bin ich, dachte Kyra. Und ich will jetzt diese verflixte Mondfinsternis sehen. Und zwar sofort!
Als sie zum Mond hochschaute, war er bereits zur Hälfte verschwunden. Kyra wusste, wie selten ein solches Ereignis war. Sonne, Erde und Mond mussten auf einer exakten Linie liegen, damit der Schatten der Erde sich über die helle Mondkugel legte und sie verbarg.
Die Nacht war sternenklar. Auf jenem Stück des Mondes, das noch zu sehen war, konnte Kyra ganz deutlich den sagenumwobenen Mann im Mond erkennen. Eine schattenhafte Gestalt, die auf ihrem Rücken ein Bündel Dornenzweige trug.
Sie konnte jetzt beinahe zusehen, so schnell schob sich der Erdschatten über den Mond. Höchstens zehn Minuten vergingen, dann war die weiße Scheibe fast gänzlich vom Himmel verschwunden. Nur eine hauchfeine Sichel schwebte noch in der Schwärze des Weltalls.
Kyra seufzte und wandte sich zurück zur offenen Terrassentür. Plötzlich war ihr unheimlich zu Mute. Die magischen Siegel, die sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt hatte, erschienen stets dann wie Tätowierungen auf ihrem Unterarm, wenn Kreaturen der Hölle in der Nähe waren.
Aber sie warnten Kyra und die anderen nicht nur – sie zogen die Diener der Finsternis auch an wie ein Magnet. Seitdem waren die vier Freunde nirgends mehr sicher. Überall mochten ungeahnte Schrecken auf sie lauern, jederorts verfolgte sie die Furcht vor der Dunkelheit und vor dem, was sie daraus beobachten mochte.
Auch jetzt war Kyra die Schwärze, die sie auf allen Seiten umgab, alles andere als gleichgültig. Trotzdem: Wenn sie auch nur ansatzweise
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