Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
und er wäre gestürzt, hätte Lisa ihn nicht geistesgegenwärtig festgehalten und zurück auf die Beine gezogen.
Als sie endlich die Straße erreichten und in das nächtliche Gassengewirr Giebelsteins eintauchten, wagten sie zum ersten Mal wieder, hinter sich zu blicken. Sie sahen nicht, ob sie verfolgt wurden; sie waren bereits um zu viele Ecken gelaufen, und ihr Gegner konnte hinter jeder einzelnen lauern.
Auch wussten sie nicht, wie schnell er war. Konnte er sich einfach an einem Ort in Luft auflösen und an einem anderen wieder erscheinen? Würde er sie vielleicht aus der Luft angreifen wie ein Falke aus dem pechschwarzen Nachthimmel?
Nicht daran denken!, hämmerte sich Lisa ein. Nur nicht daran denken!
Ein Rascheln war zu hören. Gleich hinter der letzten Biegung.
Lisa ballte beide Hände zu Fäusten. Sie hasste es, so hilflos zu sein.
Aber um die Ecke klapperte lediglich ein leerer Pappbecher, den der Wind über das holprige Pflaster trieb.
Die Geschwister atmeten auf.
»Wohin?«, fragte Nils keuchend. Er hatte Seitenstechen und presste seine Hand in die Taille.
Lisas Gedanken wirbelten umher wie verängstigte Schmetterlinge. Bilder der schrecklichen Gestalt mit den Tentakelzweigen, von Chris und Kyra auf der Flucht und immer wieder von ihr selbst, eingewoben in ein Nest von Dornenranken, geisterten ihr durch den Kopf. Es war schwer, sich dabei auf einen Plan zu konzentrieren.
»Wohin werden Chris und Kyra wohl laufen?«, fragte sie leise, wie in einem Selbstgespräch.
Die Antwort gab sie sich gleich darauf selbst, und sie konnte Nils ansehen, dass er auf Anhieb den gleichen Gedanken fasste.
Sie nickten einander zu, in stummem Einverständnis.
Ein letztes tiefes Durchatmen, dann rannten sie los.
Die Mutter des Mondes
Das alte Hügelgrab lag weit außerhalb der Stadt, jenseits des stillgelegten Bahndamms, der Giebelstein von den endlosen Wäldern im Norden trennte.
Der Weg dorthin führte über Trampelpfade, die im Schatten dichter Hecken verliefen. Mondbeschienene Wiesen wogten raschelnd im Wind, hier und da schrak ein Tier von seiner nächtlichen Jagd auf und verschwand zwischen hohem Gras oder im Dickicht der Begrenzungshecken.
Lisa und Nils zwängten sich durch die Brombeerbüsche, die auf beiden Seiten des Bahndamms wuchsen, dann sahen sie das Hügelgrab vor sich. Es lag inmitten des Wiesenstreifens, der sich zwischen dem überwucherten Schienenstrang und dem Waldrand erstreckte.
Auf den ersten Blick wirkte es nicht einmal besonders spektakulär: Die Kuppe des Hügels war in grauer Vorzeit abgetragen und aus Stein neu errichtet worden, ein flach gewölbter Rundbau, in dessen Innerem ein Stollen bis zu einer uralten Grabkammer führte. Natürlich lag kein Leichnam mehr darin. Der Keltenfürst, den man einstmals dort aufgebahrt hatte, war schon vor Jahrhunderten zu Staub zerfallen, seine Grabbeigaben von Plünderern waren gestohlen worden. Was danach noch übrig gewesen war, hatten neugierige Wissenschaftler während der letzten hundert Jahre fortgeschafft.
Heute stand das Hügelgrab leer, und niemand ging mehr dorthin.
Niemand, außer Kyra, Lisa, Chris und Nils.
Das Grab war ihr Lieblingsort, obwohl es einige Mühe kostete, sich durch den verbarrikadierten Eingang zu quetschen. Erwachsene hätten niemals durch den Spalt zwischen den Brettern gepasst, und auch die vier Freunde würden in spätestens ein, zwei Jahren zu groß dafür sein.
Aber noch war das Hügelgrab für sie so etwas wie ein zweites Zuhause. Hierher kamen sie, wenn sie ungestört sein wollten, in einer Welt ohne Erwachsene, ohne Schule und Bring-doch-mal-den-Müll-raus. Hier waren sie unter sich.
Lisa und Nils erreichten die Sperre, die aus Balken und Brettern vor dem Einstieg zum Grab errichtet worden war. Man hätte eine Kettensäge gebraucht, um der Barrikade ernsthaft zu Leibe zu rücken. Nur eine schmale Öffnung klaffte zwischen zwei wuchtigen Balken.
Bevor Lisa ins Innere schlüpfen konnte, hielt Nils sie zurück. »Warte!«, flüsterte er. Dann presste er sein Gesicht an den Spalt. »He!«, rief er, »seid ihr da drinnen?«
Einige Sekunden lang schien es, als würde er keine Antwort erhalten, doch dann schälte sich plötzlich Kyras bleiches Gesicht aus der Dunkelheit.
»Wir sind hier!«, flüsterte sie. »Kommt rein, schnell! Und macht um Gottes willen keinen Lärm!«
Wenig später hatten Lisa und Nils die Sperre bewältigt und folgten Kyra eilig den Stollen hinunter zur Grabkammer.
Chris erwartete sie
Weitere Kostenlose Bücher