Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
sah Lisas aufgerissene Augen angstvoll zu sich herüberstarren. Nils hob eine Hand, deutete auf etwas über Kyras Schulter.
Sie wirbelte herum – Und blickte in das Gesicht der Hexe.
»Hallo, Kyra Rabenson.«
Kyra prallte zurück und taumelte durch die Kammer, fort von der Frau, hinüber zu ihren Freunden am Eingang. Ihre Finger krallten sich um die Kerze. Sie spürte kaum, dass heißes Wachs über ihren Handrücken spritzte.
Die Mondhexe bewegte sich nicht. Sie lehnte mit dem Rücken an der Wand und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr hautenger schwarzer Overall schien das Kerzenlicht aufzusaugen, sie sah fast ebenso schattenhaft aus wie der Mann im Mond. Nur ihr helles Gesicht besaß feine Konturen, umrahmt von langem Haar. Sie war wunderschön, wie alle Hexen des Arkanums.
»Ihr könnt nicht vor mir fliehen«, sagte sie mit lieblicher Stimme. »Versucht es gar nicht erst.«
Chris, Lisa und Nils hörten nicht auf sie. Blitzschnell rannten sie den Stollen hinunter. Die Bretterbarriere am Eingang war unversehrt, die Hexe musste sich wie eine Schlange durch den schmalen Spalt gewunden haben. Lisa zwängte sich ins Freie, Nils folgte ihr. Chris wollte hinterher steigen, als er bemerkte, dass Kyra nicht bei ihnen war.
Verwirrt blieb er stehen. Angst peitschte seine Sinne.
»Kyra?«, rief er und blickte zurück in den Stollen. Er sah, wie Kyra sich vor dem Kerzenschein in der Kammer abhob. »Kyra, verdammt, komm her!«
Aber sie bewegte sich nicht. Ihr Blick fixierte die Hexe, die immer noch unbewegt an der Wand lehnte.
Chris eilte zurück. Die Furcht um Kyra beherrschte sein ganzes Denken. Er dachte nicht mehr an seine eigene Sicherheit, nicht an die schreckliche Macht der Hexe. Alles, was er wollte, war, Kyra dort herauszuholen.
Kyra selbst aber bewegten ganz andere Gedanken. Ihr Blick blieb fest auf das perfekte Gesicht der Mondhexe gerichtet. »Was willst du noch?«, fragte sie gefasst. »Du kannst mich nicht töten.«
»Nein?«
»Sonst hättest du es längst getan.« Sie hatte das Spiel der Hexe durchschaut, schon als sie ihr vor der Bühne gegenübergestanden hatte. All die Gebärden, die Drohungen – nichts als Maskerade. Die Hexe selbst war ohne die Macht des Mondes nur eine gewöhnliche Frau, jung und ein wenig zu schmächtig. Nicht kräftig genug, um Kyra und die anderen anzugreifen.
»Du hast gewonnen – für heute.« Die Mondhexe stieß sich sanft von der Mauer ab und kam auf Kyra zu. Sie starrte in Kyras Augen, als beobachtete sie einen Wetterfrosch in seinem Glas. »Du bist da drin, nicht wahr? Irgendwo in deiner Tochter.«
Kyra begriff schlagartig, dass die Hexe gar nicht mit ihr sprach. Sie redete mit ihrer Mutter !
Ein hämisches Lächeln zuckte über die Züge der Hexe. »Kyra Rabenson … und wie sind noch die Namen deiner Freunde? Lisa, Nils und Chris, nicht wahr? Wichtige Namen, ohne Zweifel. Wir merken sie uns gut, wir alle.«
Ihre Worte waren jetzt wieder an Kyra gerichtet. »Das Arkanum vergibt nicht«, fuhr sie fort. »Nicht der Mutter, nicht der Tochter. Nicht den Freunden.«
Chris fuhr zusammen, hielt sich aber weiter im Hintergrund. Etwas hielt ihn davon ab, diese Begegnung zu stören. Zwischen Kyra und der Hexe geschah etwas, für das es keine Worte gab. Es war fast, als sprächen sie in einer fremden Sprache miteinander, die keiner außer ihnen verstehen konnte. Gewiss, Chris hörte die Worte und wusste, was sie bedeuteten. Aber ihm war, als fände zwischen den Zeilen noch ein anderer Austausch statt. Ein wechselseitiges Tasten und Fühlen, ein zaghaftes Abschätzen des Gegners.
Und doch würde es keinen Kampf mehr geben. Nicht heute Nacht.
»Der Mann im Mond ist wieder da, wo er hingehört«, sagte Kyra. Der Klang ihrer eigenen Stimme machte ihr Mut, so als wäre sie erleichtert, dass es ihre Stimme war, die aus ihr sprach, nicht etwa die ihrer Mutter. »Du hast versucht, uns zu besiegen, Mondhexe, und du bist gescheitert. Du hast sicher Recht: Das Arkanum vergibt nicht. Aber werden die Drei Mütter dir vergeben?«
Die Hexe lachte, ein klares, glockenhelles Lachen – viel zu schön als Maske für eine so schwarze Seele. »Das soll deine Sorge nicht sein, Kyra Rabenson. Und nicht die deiner Mutter. Vielleicht werden wir uns wieder sehen. Vielleicht auch nicht. Aber du wirst meine Anwesenheit spüren können, immer wenn du zum Mond emporschaust. Mein Auge beobachtet dich. Sei wachsam.«
Kyra hatte einmal im Keller eine alte Porzellanpuppe gefunden. Das
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