Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Titel: Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
zerfaserten. Erst sah es aus, als kräuselte sich feiner Rauch von seinen Schultern und seinem Kopf. Dann aber wurde der Dunst wallender, dichter. Ein grässlicher Schrei ertönte, ein Laut, den kein Mensch hätte ausstoßen können. Der spindeldürre Körper dehnte sich in die Länge, wurde aufwärts gezogen, obwohl die Füße immer noch am Boden hafteten. Innerhalb von Sekunden wuchs er auf das Doppelte seiner ursprünglichen Größe, wurde dabei immer schmaler, faseriger. Schattenfragmente lösten sich aus seinem Leib, peitschten wie Gewehrkugeln in die Höhe und verschwanden im hellen Rund des Vollmondes. Ein Sturm aus dunklen Teilchen fegte dem Nachthimmel entgegen, während der Mann im Mond immer länger und schmaler wurde, bald nur noch ein Strich, der sich von der Grabkuppel zum Mond hinaufstreckte. Schließlich löste sich seine Bindung zum Boden, und die ganze groteske Erscheinung sauste wie ein überdehntes Gummiband zum Mond empor. Sekunden später sahen die Freunde, wie sich Flecken auf der weißen Lichtscheibe breit machten, Schatten, die auseinander flossen und gewaltige Staubkrater ausfüllten.
    Ein Blitz zuckte vom brodelnden Himmel herab und spaltete krachend einen Baum am nahen Waldrand. Eine Stichflamme loderte auf und verblasste wieder.
    Der folgende Donner war so laut, dass die Freunde auf dem Hügelgrab erschrocken aus ihrer Starre erwachten.

»Wir müssen hier runter«, rief Chris, packte Lisa, die ihm am nächsten stand, am Arm und zerrte sie mit sich über die Kante. Strampelnd kamen sie im Gras auf, stolperten und fielen zu Boden. Kyra und Nils folgten ihnen.
    Die Gewitterwolken glitten vor den Mond, verschluckten ihn. Finsternis legte sich über das Land wie vergossenes Pech. Sturm kam auf, und dicke Regentropfen klatschten den Freunden ins Gesicht.
    »Weg hier!«, brüllte Nils und wollte den Hügel hinunterrennen. Kyra und Lisa schlossen sich ihm an.
    »Nein!«, rief Chris ihnen hinterher. Der Regen wurde schlagartig stärker, wahre Fontänen prasselten vom Himmel. »Nicht darunter. Wir gehen ins Grab. Da sind wir sicher.«
    Die anderen stimmten zu.
    Wenig später zwängten sie sich durch den Bretterverschlag ins Innere des Hügelgrabes. Hier drinnen konnten sie die Hand nicht vor den Augen sehen. Kyra, die an der Spitze ging, tastete sich an der Wand des Stollens entlang. Der Stein war eiskalt unter ihren Fingerspitzen.
    Sie erreichte die Stelle, wo der Stollen in die Grabkammer mündete. Hinter ihr fluchte Nils, als er im Dunkeln gegen Lisa rempelte und sich die Schulter an der Mauer anstieß.
    Kyra ging in die Knie und klopfte mit den Händen den Boden ab. Sie fand die kleine Kiste, in der sie Kerzen und Streichhölzer für einen Fall wie diesen aufbewahrten. Hinter ihr drängten die anderen in den unterirdischen Raum. Sogar hier drinnen war das Prasseln des Regens noch deutlich zu hören, ein unheimliches Rauschen, das vom Eingang her durch den Stollen wehte. Die mächtigen Donnerschläge, die draußen über das Hügelland rollten, erklangen im Inneren der Keltengruft dumpfer, aber nicht weniger laut. Jedes Mal schienen die Wände zu erzittern wie Membranen eines vorzeitlichen Lautsprechers.
    Kyra nahm das erste Streichholz aus der Schachtel und schrammte es über die Reibfläche. Es funkte kurz, entwickelte aber keine Flamme. Kyra fluchte, warf das Hölzchen fort und nahm ein anderes. Diesmal hatte sie mehr Glück. Fahl zuckte der Lichtschein über die Wände.
    Jemand war hier. Jemand, der nicht hierher gehörte.
    Erschrocken ließ Kyra das Streichholz fallen. Die anderen schienen nichts bemerkt zu haben, doch Kyra war ganz sicher. Eine fünfte Person hielt sich in der Kammer auf. Sie hatte an der gegenüberliegenden Wand gestanden und einen riesenhaften Schatten auf das Mauerwerk geworfen.
    Jetzt herrschte wieder Finsternis.
    Niemand sprach ein Wort, bis Chris plötzlich sagte: »Machst du nun Licht oder nicht?«
    Kyra fingerte mit zitternden Händen nach einem neuen Streichholz. »Hier ist jemand«, sagte sie.
    »Wo?«, fragte Nils. Seine Stimme hallte dumpf von den uralten Wänden wider.
    Kyra riss das Streichholz über die Reibfläche. Die winzige Flamme spendete Licht, aber es reichte nicht aus, um den ganzen Raum zu erhellen. Die Stelle, an der Kyra den Schatten bemerkt hatte, war jetzt leer.
    Sie griff nach einer der Kerzen, die in der Kiste lagen, und ließ die Flamme auf den Docht überspringen.
    »Kyra.« Lisas Stimme war nur ein schwaches Flüstern.
    Kyra schaute auf,

Weitere Kostenlose Bücher