Sieben Stunden im April
mich nicht mehr zurecht. Ich muss nach Hause. Nein, musst du nicht. Du musst da jetzt rein und Olivenöl kaufen. Geh doch endlich …
Raus aus dem Auto. Wacklige Knie. Alles fühlt sich taub an. Ich schwitze. Mein Mund ist trocken. Wie ein schwarzer Schlund tut sich die Tür zum Laden vor mir auf. Ich höre anders als sonst. Stimmen und Geräusche sind seltsam dumpf. Ich versuche, nicht hinzuhören, nicht zu denken, in kein Gesicht zu blicken. Ich wünschte, ich hätte einen Einkaufswagen zum Festhalten. Ich versuche, ruhig zu atmen, mich umzusehen. Wo ist das Olivenöl? Die Benommenheit wird stärker, die Angst überschwemmt mich, der Tunnelblick verengt sich. Ich sehe gleich gegenüber dem Eingang ein Regal. Senf, Ketchup, vertraute Etiketten. Namen, die ich schon mal gesehen, gelesen, vielleicht sogar eingekauft habe. Ich kann mich nicht erinnern, bin aber für Vertrautes dankbar. Ich sehe Ölflaschen. Ich sehe Olivenöl. Mehrere Marken. Ich greife irgendeine. Ich gehe zur Kasse und muss nicht anstehen. Die Kassiererin nennt einen Preis. Ich greife ins Portemonnaie und ziehe einen Schein heraus, erhalte mein Wechselgeld. Gehe zum Auto zurück. Blut rauscht in meinen Ohren lauter als je zuvor. Ich fahre fünfhundert Meter nach Hause. Ich schließe die Wohnungstür auf, gehe hinein und setze mich an den Küchentisch. Die Flasche mit dem Olivenöl ist in meiner Handtasche. Ich nehme sie raus und halte sie in den Händen. Es ist das teuerste Olivenöl, das ich je gekauft habe. Ich betrachte die Flasche und halte sie ganz fest. Ich weine. Es ist Juli 2009. Es ist der erste Einkauf in meinem neuen Leben.
Filmszene. Amerikanische Serie. Gezappt. Zufall. Ein Polizist, auf der Suche nach dem flüchtigen Täter, spricht mit einer vergewaltigten Frau: »Mir geht es doch gut. Ich sage nicht gegen ihn aus.«
»Wo arbeiten Sie?«, fragt sie der Polizist.
»Zu Hause.«
»Verstehe. Sie sind im Gefängnis und er ist draußen. Na ja. So soll es dann wohl sein.«
Ich bin glücklich, weil ich draußen war. Ich bin glücklich, weil ich Olivenöl habe. Ich werde es demnächst anbrechen, um Pilze für unsere Balkonparty einzulegen.
Bumbum macht traurig
Bumbum ist ein unglaublich fürchterliches Gesöff unter anderem aus Wodka, Kokoslikör und Ananassaft, wobei die genauen Anteile der Zutaten völlig egal sind – es schmeckt so oder so grauenhaft. Bumbum erinnert mich an grässliche Oberstufenpartys in dunklen Kellern, irgendwo auf dem Lande bei Mitschülern, deren Eltern weggefahren waren. Düstere, geschmacklos eingerichtete, immer muffig riechende Keller mit Eckbank und Hirschgeweih, dazu Persiko, Bier, billiger Lambrusco aus der 2-Liter-Pulle. Und Bumbum natürlich.
Heute, im Zeitalter des gepflegt-gekühlten Rieslings, erinnert sich kaum jemand an Bumbum. Nur mein Mann. Und nicht nur, dass er sich erinnert – nein, er serviert es auch zu unserer legendären, alljährlichen Balkonparty. »Legendär« ist vielleicht etwas übertrieben, denn eigentlich stand gerade erst die zweite Party an, aber die erste, die noch in meinem alten Leben stattgefunden hatte, war so lustig und lebendig und fröhlich, dass eszu »legendär« weder eine sprachliche noch eine inhaltliche Alternative gibt. Also zum zweiten Mal: Grillen auf dem Balkon bei allerschönstem Sommerwetter. Fleisch satt. Wahrscheinlich aus politisch äußerst unkorrekter Massentierhaltung, was wir keinem erzählt haben. Es hat aber auch niemand gefragt. Etwas Fisch. Und dazu das Übliche – Salate, Baguette, Tsatsiki, marinierte Pilze. Bier, Wein, Wasser, alles reichlich, zu reichlich vorhanden. Und als besonderes Highlight: Bumbum. Anstelle des Bowlengefäßes – wer hat heute schon noch ein Bowlengefäß im Schrank! – kommt eine Riesensalatschüssel zum Einsatz, die nur mit Mühe die große Menge Höllengesöff fasst. Und dann kann das Fest beginnen, indem zunächst jeder Gast ein Begrüßungsglas Bumbum bekommt. Und dann noch eins und noch eins und noch eins.
Im Laufe des Abends, zu vorgerückter Stunde, wird nach dem Genuss von Bier und Wein wieder auf Bumbum zurückgegriffen. Mein Mann schenkt nach, alle sind sich einig, dass es scheußlich schmeckt, trinken folgsam aus und fragen nach mehr. Ich auch. Wobei ich sagen muss, dass sich Antidepressiva nicht gut mit hochprozentigem Alkohol vertragen. Das war mir bekannt und ziemlich egal – immerhin lief gerade unsere legendäre Balkonparty. Wer mag da schon mit Wasser und einem säuerlichen Gesichtsausdruck
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