Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Himmel
War das wirklich besser als der Fisch? Bilodo spürte, wie sein neu erworbenes Selbstvertrauen dahinschwand, und war betrübt über seine Mittelmäßigkeit. Rein theoretisch zu wissen, was ein Haiku ist, war eine Sache, eines zu verfassen hingegen etwas gänzlich anderes. Die literarische Qualität war außerdem nur ein Aspekt des Problems: Abgesehen vom fraglichen künstlerischen Wert glich weder das Haiku vom Fisch noch das vom Vogel einem Gedicht, das von Grandpré hätte stammen können, und darin lag ihre hauptsächliche Schwäche. In erster Linie galt es, ein Gedicht à la Grandpré zu schreiben. Bilodo musste es gelingen, sich so sehr in die Seele des Verstorbenen hineinzuversetzen, dass Ségolène keinen Verdacht schöpfen würde.
Bilodo hatte die Idee, Grandprés Schriften einer graphologischen Analyse zu unterziehen, und besorgte sich ein entsprechendes wissenschaftliches Werk. Er stellte schon bald fest, dass es sich um eine auf Erfahrung gründende Disziplin handelte, eine Kunst, die man sich nur durch intensive Praxis aneignen konnte. Wie sollte er Grandprés Persönlichkeit in der kurzen ihm noch verbleibenden Zeit erfassen? Als er abends vor dem Fernseher das Handbuch durcharbeitete, ließen ihn die Äußerungen eines Schauspielers hellhörig werden, der, als man ihn aufforderte, über seinen Beruf zu sprechen, erzählte, wie er es angestellt hatte, einen wenige Jahre zuvor verstorbenen Regierungschef zu verkörpern. Der Schauspieler gestand, er habe sich zunächst für die kleinen Gesten des großen Mannes, für dessen Ticks, Manien und Gewohnheiten interessiert und daran gearbeitet, sie immer wieder nachzuahmen, bis ihm dieser Identifikationsprozess schließlich das innere Wesen der Figur, ihre tiefe Wahrheit offenbart habe. Bilodo schlug fasziniert seine Abhandlung über Graphologie zu. War das nicht eine verheißungsvolle Fährte?
Tags darauf nahm er im »Madelinot« nicht etwa an der Theke Platz, sondern auf der Bank, auf der Grandpré immer gesessen hatte, und ließ sich das bringen, was der Verstorbene gewöhnlich bestellt hatte. Verwundert servierte ihm Tania ein Tomatensandwich, bei dessen Verzehr er die ungewohnte Perspektive genoss, die ihm dieser neue Aussichtspunkt nicht nur auf das Restaurant, sondernauch auf die Straße gewährte. Als Bilodo nach dem Essen seine Runde fortsetzte, ging er noch einen Schritt weiter und versuchte sich vorzustellen, er sei Grandpré und beobachte aufmerksam seine Umgebung, registriere jeden Vorfall, jedes einzelne Detail, das ihm den Stoff für ein Haiku liefern könnte. Wie etwa jene Raupe, die über den Bürgersteig kroch, jenen durchbrochenen Bogen, den die über der Straße verschränkten Äste bildeten, jene Eichhörnchen, die zwischen den Füßen einer Parkbank miteinander stritten, und jenen an einer Wäscheleine hängenden rosa Schlüpfer, in dem sich der Wind verfing: Ließen sich daraus nicht vielleicht Gedichte machen?
In der Rue des Hêtres bemühte sich Bilodo, während er die Straße entlangschlenderte, alles mit Grandprés Augen zu sehen, zu empfinden, was der andere empfunden haben mochte. Als er bei dem Versuch, in die Innenwelt dessen, der nicht mehr war, einzudringen, vor dessen verlassener Wohnung eintraf, wurde ihm der wahre Weg, sich zu ihr Zugang zu verschaffen, ganz plötzlich in Form eines Aushangs offenbart.
Eines an die Fensterscheibe geklebten schwarzroten Aushangs, auf dem zu lesen war: WOHNUNG ZU VERMIETEN.
Bilodo traf die Eigentümerin des Hauses in ihrem winzigen Gemüsegarten an. Sie war eine distinguierte, misstrauische Dame, auf die Bilodos Uniform offenbar vertrauenerweckendwirkte. Madame Brochu trennte sich einen Moment lang von ihrem Gemüse, führte ihn in die zweite Etage und öffnete ihm die Tür zur Wohnung, die er dieses Mal ganz legal betrat. Es war seltsam, sich an diesem Ort, den er bereits heimlich im Dunkeln aufgesucht hatte, bei Tageslicht umzusehen. Im Gegensatz zu den eher düsteren Erinnerungen, die er mit ihr verband, erwies sich die Wohnung als angenehm, hell und vor allem dank ihrer typisch japanischen Ausstattung ungewöhnlich. Bilodo war das bei seinem Einbruch nicht weiter aufgefallen, da er sich lediglich im Schein einer Taschenlampe und durch das trübe Prisma des Stresses einen Eindruck von den Örtlichkeiten verschafft hatte, doch die Möbel, Jalousien, Lampen, so gut wie alles war im japanischen Stil oder von japanischer Machart. Man hätte meinen können, man befände sich im
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